Coverstory : Die Kartell-Republik

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Das Schriftstück war anonym – und schlug ein wie eine Bombe. Seit 1998 sollen, so ein namenloses Schreiben an die deutsche Wettbewerbsbehörde, Mitarbeiter der Voestalpine Deutschland GmbH mit ihren Konkurrenten von ThyssenKrupp und ArcelorMittal Preise von Bandstahl und Halbzeugen für die Automobilindustrie abgesprochen haben. Vor allem die langlaufenden Lieferverträge mit Automobilherstellern würden mit künstlich herbeigeführten Engpässen geglättet werden. Dass ein ehemaliger Mitarbeiter des Stahlherstellers ThyssenKrupp hinter der Anzeige steht, gilt mittlerweile als gesichert. Doch wie fundiert die Anschuldigungen wirklich sind, welche Mitarbeiter, Kunden und Geschäftsjahre konkret betroffen sind, darüber herrscht bei Voestalpine, ThyssenKrupp und ArcelorMittal offenbar Rätselraten. Nach den ersten Hausdurchsuchungen am 28. Februar in München (Voestalpine), Duisburg (ThyssenKrupp) und Köln (ArcelorMittal) sowie Razzien in Privatwohnungen einiger ThyssenKrupp-Mitarbeiter herrscht zwischen Kartellhütern und beschuldigten Unternehmen praktisch Funkstille. Eine hochgradig unangenehme Situation – nicht nur für die Linzer: Dort arbeiten Forensiker einer Unternehmensberatung unter Hochdruck an der betriebsinternen Aufklärung. Spezialprogramme scannen im Stundentakt mehrere Gigabyte an E-Mails. Netzwerke des Mailverkehrs werden visualisiert. Wer hatte mit wem Kontakt – und wie oft? Besonders verdächtige Kommunikationsfäden werden händisch analysiert. Jede noch so dürre schriftliche Anfrage der Kartellbehörden, die ab und an in die Unternehmenszentralen flattert, sorgt für hektische Betriebsamkeit. Der Aufwand könnte sich lohnen: Denn jenes der drei Unternehmen, das am schnellsten reinen Tisch macht, hat Chancen auf den so genannten Kronzeugenstatus und damit mildere Strafen. 63 Kartellfälle im Vorjahr Jenen Kronzeugenstatus konnte sich die Voestalpine erst kürzlich sichern. Als im Vorjahr die so genannten „Schienenfreunde“, ein Kartell aus Voestalpine, ArcelorMittal und ThyssenKrupp, das Preise und Mengen auf dem Markt für Eisenbahnschienen abgesprochen hat, enttarnt wurde, sorgten die Eigenrecherchen der Voestalpine dafür, dass die Linzer auspacken konnten – und mit einer milderen Strafe davonkamen. Doch die Forensiker haben derzeit in Österreich allerorten zu tun: Im Vorjahr hat die Bundeswettbewerbsbehörde 63 Kartellfälle behandelt. Alleine im Mai wurde bekannt, dass der Feuerwehrausrüster Rosenbauer weitere 2 Millionen Euro in der Causa Feuerwehrfahrzeugkartell bezahlt. Am selben Tag wurde das Handelshaus Rewe (Billa, Merkur) mit 21 Millionen Euro zur zweithöchsten Buße verdonnert, die es in Österreich je gab. Ebenfalls im Vormonat flossen nach Preisabsprachen bei Küchengeräten 2,9 Millionen an Kartellstrafe von Philips Austria an die Republik. Künstliche Marktverknappung, getürkte Preise, manipulierte Bieterverfahren oder wettbewerbswidrige Ausnutzung beherrschender Marktstellung: Warum steckt die österreichische Wirtschaft im Kartellsumpf? Sieben Fälle und Thesen zur Kartellrepublik Österreich. Lesen Sie weiter: Das Speditionskartell, das keines war. Oder doch?

Über den Fall BWB/K-150 brüten jetzt die Juristen des Europäischen Gerichtshofs. Und immer noch ist unklar, ob 40 der renommiertesten österreichischen Spediteure jahrelang Kartellbrüder im juristischen Sinne waren – oder doch nur Opfer ihrer eigenen Naivität. Schon als die Absprache im März 2010 aufflog, war eines klar: Hier prallen Welten aufeinander. „Wir haben unser Kartell beim EU-Beitritt Österreichs ordnungsgemäß angezeigt und haben auch ein Gutachten, das zeigt, dass alles seine Ordnung hat“, sagte damals Andreas Demmer, Geschäftsführer des involvierten Zentralverbandes für Spedition und Logistik, auf Anfrage von INDUSTRIEMAGAZIN. Ein legales, „angemeldetes“ Kartell? In Österreich im Jahr 2010?Nicht übersichtlicher wurde die Sachlage, als sich herausstellte, dass die Preisabsprachen zwischen den Logistikern völlig offen erfolgten – via alljährlich erstellter Broschüre, deren Preistabelle das WU-Institut für Transportwirtschaft und Logistik kalkulierte, und die in Zehntausend-Stück-Auflage verteilt wurde. Im Zuge des Kartellprozesses stellte sich heraus: Das Kartell wurde 1995 tatsächlich „angemeldet“, als so genanntes Bagatellkartell – ein Unikum, das mit dem EU-Beitritt im selben Jahr eigentlich gar nicht mehr existieren hätte dürfen. Das Kartellgericht kam zur Erkenntnis, dass die Logistiker wegen eines Rechtsirrtums tatsächlich im guten Glauben gehandelt hätten. Ob dieser gute Glaube – und vor allem die Tatsache, dass eine 15 Jahre alte Rechtsentscheidung aus Österreich essenzielle Bestandteile des EU-Rechts aushebelt – auch vor dem Europäischen Gerichtshof standhält, wird sich weisen.Fehlendes Unrechtsbewusstsein im Umgang mit Kartellverboten ist österreichischen Unternehmen auf jeden Fall – noch – eigen. „In vielen Fällen, in denen wir ermittelt haben, mussten wir feststellen, dass den Personen schlicht und einfach die Einsicht fehlt, wirklich Illegales getan zu haben“, sagt Stefan Keznickl, Sprecher der Bundeswettbewerbsbehörde. Und der Bewusstseinsprozess kommt erst langsam in Gang. Zumal die österreichische Rechtsordnung bis 1995 gewisse Kartelle zugelassen habe. „Oft, haben wir das Gefühl, dass die Betroffenen nicht wahrhaben wollen, dass das, was früher üblich und straffrei war, nämlich Preise abzusprechen, heute illegal ist.“ Lesen Sie weiter: Das Küchengerätekartell. Oder: Keine Angst vor Entdeckung?

Am Anfang stand ein verärgerter Internethändler. Er meldete sich bei der Bundeswettbewerbsbehörde mit dem Hinweis, dass er vom Küchengerätehersteller Philips nicht beliefert werde: Selbst auf intensive Bemühungen erhielt er weder Produkte noch Produktinfos – und schon gar keinem Support. Es gäbe, so der Händler, übrigens auffallend hohe Wiederverkaufspreise bei zwei großen Elektronikketten. Als auch die Arbeiterkammer in einer Verbraucherstudie ähnliche Marktbeobachtungen aufzeigte, wurden die Ermittler der Bundeswettbewerbsbehörde aktiv.Als die so genannten Case-Handler der BWB nach Hausdurchsuchungen im Herbst 2012 das bei Philips beschlagnahmte Material zu sichten begannen, waren sie erstaunt. Fast alle Beweise, die es brauchte, um den Elektronikriesen in dem konkreten Fall zu überführen, waren, so heißt es, mit der Suchfunktion im Mailprogramm und einfachen, einschlägigen Stichwörtern zu finden. „Man wundert sich wirklich, was die Leute so alles in ihre E-Mails hineinschreiben“, sagt der Forensiker Benjamin Weissmann von der Unternehmensberatung Ernst & Young. Zwar sei der Ton in solchen Fällen fast immer verschwörerisch („diskrete Vorgangsweise erforderlich“), der Versuch einer Verschleierung jedoch zumeist hochgradig dilettantisch. Die hohen Strafen – und der riesige Verwaltungsaufwand, der auf die Unternehmen im Zuge der Ermittlungen der BWB zukommt – zeigen, dass ein solches Handeln Konsequenzen hat. Denn üblicherweise wird die Kartellstrafe nach einem Prozentsatz jenes Umsatzes berechnet, auf den sich das rechtswidrige Verhalten bezieht – multipliziert mit den Jahren der Zuwiderhandlung. Für Philips bedeutete das, dass dieser Tage für Absprachen im Zeitraum von 2009 bis 2012 eine Kartellstrafe in der Höhe von 2,9 Millionen Euro fällig wurde. Lesen Sie weiter: Das Karbid-Kartell. Oder: Es war doch nur Notwehr!

Als Fahnder nach Hinweisen eines Kronzeugen mit den Untersuchungen begannen, stießen sie in beschlagnahmten Dokumenten immer wieder auf das Wort Bibel. Die Bibel war der Marktaufteilungsschlüssel, auf den sich die Teilnehmer des so genannten Karbid-Kartells bei den ersten Unterredungen im Jahr 2004 geeinigt hatten. Die Chemiehersteller, unter ihnen die österreichische Donauchemie, wähnten sich in einer Art Notwehrsituation: Der übermächtigen Phalanx weniger großer Stahlhersteller, die Kalziumkarbidpulver und Magnesiumgranulat für die Produktion brauchten, stand eine Vielzahl kleiner Anbieter gegenüber. Der Wettbewerb war ruinös – bis man begann, sich zu treffen. Man traf sich in edlen Hotels, immer wieder auch in der Nähe von Salzburg, um Marktanteile bis in den Zehntelprozentbereich festzulegen. Auf seinem Höhepunkt umfasste das Kartell alle Länder der EU mit Ausnahme von Spanien, Portugal, Irland und Großbritannien. Als das Kartell 2009 aufflog und der österreichische Beteiligte – die Donauchemie – eine saftige Strafe ausfasste, sagte Eigentümer und Generaldirektor Alain de Krassny einen denkwürdigen Satz – zu dem er, wie er INDUSTRIEMAGAZIN gegenüber angibt, auch heute noch steht: „Die Stahlindustrie ist mit ihrer Marktmacht über uns drübergefahren, die Absprache war reine Notwehr.“Wirtschaftsethiker können dem Notwehrargument freilich nichts abgewinnen. „Es kann nicht sein, dass man sich auf das Wettbewerbsprinzip nur dann beruft, wenn es einem nutzt, und es in Frage stellt, wenn es einem schadet“, sagt Michael Aßländer, Universitätsprofessor und Gründungsvorstand im österreichischen Netzwerk Wirtschaftsethik. Lesen Sie weiter: Das Industriechemikalien-Kartell. Oder: Wie ahnungslos dürfen Chefs sein?

Helmut Struger erinnert sich noch genau an den Tag, als ihn der aufgeregte Anruf aus der Konzernzentrale im deutschen Mülheim erreichte. In Frankreich sei Feuer am Dach, so erzählte man dem damaligen Österreich-Chef des Chemikalienherstellers Brenntag. Ein lokaler Manager hat, offenbar aus Rache für seine Entlassung, ausgepackt und die französische Brenntag wegen Kartellverstößen angezeigt. Jetzt sollen alle Länderchefs in ihren Verantwortungsbereichen interne Untersuchungen einleiten, um festzustellen, ob da womöglich noch mehr im Busch ist.Es war mehr im Busch. Schon bald stellte sich heraus, dass der Brenntag-Vertrieb für Kärnten, Steiermark, Südburgenland und Tirol mit Mitarbeitern aus dem Vertrieb des Konkurrenzunternehmens nicht nur Golf spielte, sondern auch ganz konkrete Marktgrenzen für Säuren, Laugen und Lösungsmittel festlegte. Durch das Vortäuschen von Lieferengpässen verdiente das Unternehmen zwischen 2002 und 2006 in der Region ganz exzellent.Warum die Zahlen des Vertriebes Süd niemandem bei Brenntag aufgefallen sind, darüber will Struger heute nur mutmaßen. Das Marktsegment sei – im einstelligen Bereich vom Gesamtumsatz – wohl zu klein gewesen. Ein Argument, das Wettbewerbshüter so nicht gelten lassen wollen. „Selbst wenn ein Unternehmen nicht verurteilt wird, kostet ein großes Verfahren vor dem Kartellgericht Millionen. Dieses Risiko geht doch kein Mitarbeiter aus der zweiten oder dritten Reihe ein, ohne sich abzusichern“, sagt Stefan Keznickl, Sprecher der Bundeswettbewerbsbehörde.Der Verdacht der Kartellhüter: Ein Klima der Zahlengetriebenheit, von CEOs geschaffen, nährt den Boden für Mauscheleien. Solange nichts schiefgeht, werde, vor allem in jenen Unternehmen, in denen gute Quartalszahlen wichtiger sind als langfristiges Wachstum, nicht unbedingt nachgefragt, wie Umsätze entstehen. Oft genügte den Kartellwächtern schon ein kurzer Blick in die Bücher, um festzustellen, dass verdächtige Vertriebler in Teilen ihres Marktgebietes Monopolstellung genossen, während in anderen Teilen gar nichts verkauft würde. „Das ist uns aufgefallen – und das hätte jedem mittelmäßigen Controller auffallen müssen“, sagt ein Case Handler.Die Mitwisserschaft oder Mittäterschaft wirklich nachweisen konnten Österreichs Kartellhüter noch keinem CEO in Österreich. Denn anders als etwa in den USA wird im österreichischen Kartellrecht bei Vergehen das Unternehmen zur Verantwortung gezogen und nicht die Person, die für die Tatbestände verantwortlich war. Zwar wären strafrechtliche Konsequenzen möglich, da Kartellbildung den Betrugstatbestand erfüllt und dieser ein Offizialdelikt ist. Doch dazu kommt es in der Regel nicht, weil weder die Bundeswettbewerbsbehörde noch das Kartellgericht entsprechende Daten an die Staatsanwaltschaft weiterleiten. Was bleibt sind die arbeitsrechtlichen Konsequenzen – und eventuelle Schadenersatzansprüche an den Mitarbeiter im Regressweg. Doch gerade dieser ist – Stichwort: Rennen um den Kronzeugenstatus – oft schwer durchzusetzen. Lesen Sie weiter: Die Kronzeugenregelung. Oder: Die besseren Bösen.

Seit 2005 ist sie auch im österreichischen Kartellrecht verankert: Die Kronzeugenregelung. Jene Unternehmen, die der BWB nach Verfahrenseröffnung als Erste alle verfügbaren Informationen über ein Kartell offenlegen, können auf Straffreiheit hoffen. Der nachfolgende Kronzeuge erhält eine Reduktion der Geldbuße, aber keine völlige Straffreiheit. Dass der Kronzeugenstatus nicht verschenkt wird, ist spätestens seit dem Druckchemikalien-Kartell klar: Nachdem im Jahr 2009 der Chemiekonzern Donau-Chemie ein Verfahren über Preisabsprachen bei Spezialchemikalien für Druckereien mit einer Selbstanzeige ins Rollen gebracht hat, wurde dem Unternehmen der Kronzeugenstatus angeboten. In den laufenden Ermittlungen stellte sich jedoch heraus, dass man bei der Donau-Chemie offenbar so sehr an einer wirklichen Aufklärung nicht interessiert war. Der Umfang der Beteiligung am Kartell und der Zeitraum der Zuwiderhandlung seien, so das Kartellgericht, „in vorwerfbarer Weise“ verschwiegen worden. Die Wettbewerbshüter fackelten nicht lange – und verdonnerte den Hinweisgeber Donau-Chemie – aufgrund der starken Marktstellung – sogar zur höchsten Strafe unter allen beteiligten Unternehmen. Ohnehin ist die Kronzeugenregelung nicht unumstritten. Für den Wirtschaftsethiker Aßländer liegt das Problem in der Außergerichtlichkeit. „Zur Verhinderung von Wirtschaftsvergehen halte ich den Verzicht auf den Grundsatz, dass über Bestrafung oder Nichtbestrafung nur ein Gericht entscheiden kann, für viel zu schwerwiegend.“Für noch viel problematischer hält Aßländer jedoch die moralischen Implikationen, die das Rennen um die strafbefreiende (oder -mindernde) Wirkung der Kronzeugenregelung in den betroffenen Unternehmen mit sich bringt. Nur wer die betroffenen – kriminellen – Mitarbeiter bei der Stange hält, ist schneller und umfassender als der Mitbewerb (siehe Donau-Chemie) informiert. Beim mutmaßlich Hauptbeschuldigten im Falle der angeblichen Autoblech-Absprachen, der deutschen ThyssenKrupp, begibt man sich jetzt sehenden Auges in das Dilemma: Im Mai hat der CEO des deutschen Stahlriesen für seine Mitarbeiter eine Generalamnestie verkündet. Wie man hört, umfasst das Placet sogar Rechtsanwaltspakete und Weiterbeschäftigungsvereinbarungen.Doch welch verheerendes Signal sendet diese Amnestie eigentlich an die anständigen Kollegen im Haus? Für Michael Aßländer, Universitätsprofessor und Gründungsvorstand im österreichischen Netzwerk Wirtschaftsethik, keine guten. Es verstärkt all jene Faktoren, die Keim des Kartellübels sind: Fehlendes Unrechtsbewusstsein wird pardoniert. Die Angst vor Entdeckung und Konsequenzen wird neutralisiert. Und die systematische Ahnungslosigkeit in den Führungsetagen rekompensiert. Das Rennen um die vollständige Aufklärung in Sachen mutmaßliches Autostahlkartell bleibt spannend.Lesen Sie hier den Kommentar von Klaus Woltron: "Von der Kunst des Nicht-erwischt-Werdens" Sehen Sie hier: Die höchsten Kartellstrafen in Österreich Lesen Sie hier: Rechtstipp Kartellrecht - "Hardcore"-Kartelle im Visier