Retrospektive : Déjà vu in der Stahl-Industrie

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Um diesen Job gibt’s kein Gerangel. Wenn Wolfgang Eder im Dezember seinen Nachfolger als Präsident des europäischen Stahl-Verbandes Eurofer aus dem Hut zaubern muss, wird ihm ein Sittenbild seiner Branche geliefert: Lakshmi Mittal, als Eigentümer von Europas größtem Stahlkonzern durchaus naheliegend für den Job, ist bei seinen Kollegen völlig unten durch. Dass er Anfang der 2000er mit politischen Versprechungen den halben europäischen Stahlmarkt zusammengekauft hat – geschenkt. Dass er in den darauffolgenden Boomjahren mit Massenstahl mehr verdient hat als die meisten Spezialhersteller, Schwamm drüber.

Sogar, dass er die Branche seit 2009 mit Dumpingrunden quält, würde man dem britisch-indischen Stahlmogul nachsehen. Doch das Geschäftsmodell von Arcelor Mittal steht auf dem Prüfstand. In zahlreichen europäischen Werken stehen Schließungen an – das macht Lakshmi Mittal abhängig, politisch erpressbar und disqualifiziert ihn für den Job als Europas Stahlpräsidenten.

Die Nummer zwei am Kontinent, Heinrich Hiesinger, ist ein intellektuelles Schwergewicht. Er ist mehrheits- und konsensfähig. Aber auch er wird nicht auf Eders Shortlist landen. Der 53-jährige Boss des deutschen Stahlriesen Thyssenkrupp muss nach der Brasilien- und US-Pleite des Konzerns einen dramatischen Strategiewechsel managen. Ein Umstand, der Hiesinger für europäische Lobbyingagenden paralysiert – er hat bereits abgewunken.

Bei den Vorstandschefs von Europas drittgrößtem Stahlkonzern braucht Wolfgang Eder gar nicht erst anzuklopfen – obwohl er genau wüsste, wo sie sich gerade aufhalten: Nicola und Fabio Riva, die Patrones des italienischen Riesen Riva, stehen unter Hausarrest. Sie werden beschuldigt, mit ihrem maroden Stahlwerk in Taranto für den Krebstod mehrerer hundert Anrainer verantwortlich zu sein.

Bleiben noch die Nummer vier und fünf: Die Europa-Chefs von US Steel oder Tata. Ersterer versucht seit längerem, das defizitäre Hauptwerk im slowakischen Kosice an den – ukrainischen – Mann zu bringen. Letzterer gilt als Statthalter des indischen Eigentümers. Und, ganz ehrlich: Wieviel Gravitas haben die Filialleiter, um die europäische Interessengemeinschaft Eurofer in die Zukunft zu führen?

War die Stahlkrise nie vorbei?

Dabei könnte die Branche eine starke Führung in den nächsten Jahren durchaus gebrauchen: In Europa herrschen horrende Überkapazitäten. Mit dem Platzen der kreditfinanzierten südeuropäischen Immobilienblase ist der Bedarf des größten Stahlverbrauchers, der Baubranche, nachhaltig reduziert. Andere Großabnehmer, wie die Automobilindustrie oder der Maschinenbau, wachsen längst nur noch außerhalb Europas. Die Konkurrenz hat längst aufgerüstet: Türkische, ukrainische und russische Mitbewerber drängen mit durchaus akzeptablen Qualitäten in die EU – und leiden nicht unter den hohen Energiekosten und dem rigiden CO2-Regime, das die Industrie hierzulande bewegt. An Investitionen am Standort Europa ist schon lange nicht mehr zu denken. An Werksschließungen allerdings auch nicht. Denn der politische Druck auf Stahlkonzerne mit Stilllegungsplänen ist gewaltig.

Subventionen, Enteignung, Verstaatlichung: Die Rezepte, die der notleidenden Stahlbranche von der Politik derzeit verschrieben werden, ähneln jenen in den 80er Jahren. Auch die Probleme der Branche sind dieselben wie jene der großen Stahlkrise. Dabei schien es in den Jahren des Stahlbooms, während der kreditfinanzierten Konsumparty der 2000er, als wären diese Strukturprobleme längst gelöst. War die Stahlkrise der 80er Jahre etwa nie zu Ende? Erreicht Sie in den nächsten Jahren ihren letzten, finalen Höhepunkt? Drei Episoden, die diese These erhärten.

Überkapazitäten: Taranto - Italienische Krankheit

Das Stahlwerk Ilva steht sinnbildlich für die dramatischen Überkapazitäten der Branche. Und entzaubert die Mär, wonach in Europa heute "grüner und umwelt­ freundlicher" Stahl produziert wird. Taranto, am Zipfel des italienischen Stiefels, ist ein malerischer Ort. Hier, auf dem Hügel der Isola del Borgo, der alten Innenstadt von Tarent, schlängeln sich enge Gassen um typisch apulische Herrschaftshäuser. Wer die historische Girevole-Brücke betritt und in den Süden schaut, kann das mächtige, 1.500 Jahre alte Castello Aragonese bewundern. Richtet der Betrachter den Blick gen Norden, so sieht er ein mächtiges Industrieareal. Hier steht Ilva, das größte Stahlwerk Europas. Rund acht Millionen Tonnen "accialo" – fast fünf Prozent der gesamten europäischen Produktion – könnten hier hergestellt werden. Könnten. Denn vier der fünf Hochöfen wurden in einer dramatischen Nacht-und-Nebel- Aktion Ende November 2012 heruntergefahren.

Das Stahlwerk in Taranto steht sinnbildlich für die Krankheit, unter der die europäische Stahlbranche leidet. Verwahrlost und veraltet: Wer sich am Gelände des Stahlwerkes Ilva umsieht, glaubt, die Zeit stand seit 1989, als der Stahlbaron Fabio Riva das Werk vom Staat übernahm, still. Wie wenig investiert wurde, beweist die makabre Statistik: Erst Ende Februar starb ein Mitarbeiter der stillgelegten Kokerei, als während eines Kontrollganges eine völlig marode Plattform einstürzte. Im Dezember kollabierte ein Hebekran während eines Sturms und begrub einen Mitarbeiter unter sich. Insgesamt 13 tödliche Arbeitsunfälle zählte die italienische Gewerkschaft CGIL alleine in den letzten zwölf Monaten in dem Werk. Doch das ist nichts gegen die Todesfälle, die der Staubfilm, den das Stahlwerk im Umkreis des Werkes niedergehen ließ, zu verantworten hat. Die Rauchfänge der fünf riesigen Hochöfen mit einem Arbeitsvolumen von bis zu 4335 m3 emittierten die unvorstellbare Menge von 800 Gramm Dioxin jährlich. Fast 400 Menschen sollen in den letzten Jahren in unmittelbarer Nähe des Werkes an Tumoren gestorben sein – mit Wissen und Billigung der mittlerweile unter Hausarrest stehenden Mitglieder der römischen Stahldynastie Riva.

Dreckschleudern wie Ilva stehen auch im slowakischen Kosice, im rumänischen Galati oder im polnischen Kattowitz – und damit in direkter Konkurrenz zu den nord- und mitteleuropäischen Werken, in die seit Jahrzehnten Milliarden investiert wurden. Und sie alle produzieren Massenstahl, der längst nicht mehr genug Abnehmer findet. Als in den letzten Novembertagen 2012 die riesigen Hochöfen von Ilva heruntergefahren wurden und mit einem Schlag Jahreskapazitäten von rund acht Millionen Tonnen aus dem europäischen Markt genommen wurden, passierte – gar nichts. Der Preis an den europäischen Stahl-Spotmärkten bewegte sich keinen Millimeter. Kein Wunder – denn es müssten acht bis zehn dieser Mega-Werke die Pforten schließen, um Angebot und Nachfrage in Europa wieder ins Lot zu bringen. Eine Studie der OECD errechnete, dass von den rund 210 Millionen Tonnen Stahl, die innerhalb Europas produziert werden können, seit Beginn der Absatzkrise 2009 durchschnittlich rund 80 Millionen Tonnen Überproduktion sind. Damit werden die Problemfälle Ilva, Kosice, Kattowitz und Galati zum Problem auch für die Qualitätsstahlerzeuger: Sie drücken die Margen und bedrohen Innovation. Die Auslastung der europäischen Werke lag im Jahr 2012, so die OECD, bei gerade einmal 75 Prozent. Dabei handelt es sich um die durchschnittliche Auslastung – viele europäische Werke liegen noch weit darunter.

Marktversagen: Florange - Französische Medizin

Der Hochofen in Florange steht für aufgeladene Symbolik, die der Stahlindustrie noch immer anhaftet. Und für die Fehler der Vergangenheit, die in den vergangenen 25 Jahren ungelöst blieben. Florange ist kein malerischer Ort – auch wenn sich das lothringische Städtchen, 35 Kilometer südlich von Luxemburg, sanft an die Mosel schmiegt. Aber Florange ist ein Synonym. Das Städtchen steht für all jene Probleme, die man seit der großen Stahlkrise der 80er Jahre gelöst wähnte. SOS – so steht es auf dem Schild an der Einfahrt nach Florange, der kleinen Stadt mit der großen Stahlvergangenheit. Das Schild steht da seit Anfang Oktober 2012 – seit jenen Tagen, an denen der Eigentümer des lokalen Stahlwerkes Lakshmi Mittal ankündigte, den Hochofen abzuschalten und 600 Mitarbeiter abzubauen. Das Schild steht auch für aufgeladene Symbolik, die der Stahlindustrie noch immer anhaftet. Der Hochofen – ein Symbol der Industriegesellschaft wie der Acker als jenes der vorindustrialisierten Zeit. Und die Politik reagierte im Schatten der erlöschenden Hochöfen vorhersehbar: Der französische Präsident kündigte an, auf EU-Ebene das Subventionsverbot für die europäische Stahlindustrie lockern zu wollen. Der französische Industrieminister fordert gar eine Rückverstaatlichung der Werke. Ideen, die bei der zeitgleichen Diskussion um die Schließung des Opel-Werkes in Bochum und des PSA-Werkes in Paris – dabei geht es um den Verlust von insgesamt 15.000 Arbeitsplätzen – selbst einem Sozialisten nicht über die Lippen gekommen wären.

Dabei hätte man eigentlich gedacht, dass dieses Gespenst mit den 80er Jahren begraben wurde. Damals setzte sich eine Hoffnung durch: Die europäische Stahlindustrie sollte an einer Mischung aus Privatisierung und Konzentration genesen. Die Formel überzeugte damals viele: Liberalisierung + Marktkonsolidierung = neue, konkurrenzfähige Stahlindustrie. Also wurde auch in Florange entstaatlicht. Und aus Usinor, der Muttergesellschaft des stolzen lothringischen Stahlwerkes, der französische Stahlkonzern Usinor-Sacilor. Dann wurde fusioniert. Mit der Luxemburger Arbed und der spanischen Aceralia zu Arcelor. Später mit Mittal Steel des britisch-indischen Stahlmoguls Lakshmi Mittal zum größten Stahlkonzern der Erde.

In ganz Westeuropa verschwanden in diesen Jahren die klingenden Namen. Aus den 25 Konzernen der 90er wurden sieben Riesen. Die Idee schien aufzugehen: Mit der Privatisierung hielt das Gewinnstreben, die Effizienz und die Produktentwicklung Einzug. Die Macht der Giganten, die das Vormaterial Eisenerz und die Kokskohle lieferten, konnte durch eigene Größe in Schach gehalten werden. Der Einfluss der Gewerkschaften, die zuvor ihre Eigentümer – die Regierungen – am Gängelband führten, schien auf ein verträgliches Maß reduziert. Und die neuen Riesen sollten auch die Kraft besitzen, aus eigener Kraft überflüssige Kapazitäten stilllegen zu können.

Doch ein Blick auf den traurigen Helden genügt, um festzustellen: Auch die neuen Riesen kommen gegen die aufgeladene Symbolik des Hochofens nicht an. Lakshmi Mittal, möglicherweise der mächtigste Stahlmanager der Erde, schafft es nicht, ein 600-Mitarbeiter-Werk stillzulegen. Dabei steht Mittal mit dem Rücken zur Wand: Bei einer Auslastung von unter 50 Prozent in Werken wie jenem in Florange schrieb das Unternehmen im Vorjahr einen Verlust von 3,7 Milliarden Euro und musste eine (nicht cashwirksame) Abschreibung auf das Europageschäft von zusätzlichen 4,3 Milliarden Dollar in der Bilanz vornehmen. Und Besserung ist – angesichts des geringen Wachstums und der Konkurrenz aus dem Osten – nicht in Sicht.

Das Geschäftsmodell Lakshmi Mittals und mit ihm die Idee der Konsolidierung der 80er Jahre scheint gescheitert. Ein Langzeitvergleich der OECD zeigt: Mit der durchschnittlichen Auslastung von 75 Prozent liegen die europäischen Stahlwerke heute wieder da, wo sie schon in den 80er-Jahren herumdümpelten. Spätestens seit 2008 die südeuropäische Baublase platzte, wird offensichtlich: Es war lediglich der auf Pump finanzierte südeuropäische Bau, der die Probleme der europäischen Stahlindustrie fast ein Jahrzehnt kaschiert hat. Doch was kommt jetzt, da die dicke, kreditfinanzierte Auftragsdecke (für immer?) gelüftet ist?

Flucht in neue Märkte: Corpus Christi - am amerikanischen Wesen genesen

Im texanischen Corpus Christi errichtet die Voestalpine eine Direktreduktionsanlage. Sie ist ein Mahnmahl für die europäische Industriepolitik. Die Ankündigung auf der Website der lokalen Ansiedelungsagentur könnte enthusiastischer nicht sein: "Mit 700 Millionen Dollar ist das eine Ankerinvestition und bringt 150 hochbezahlte Jobs nach Corpus Christi." Die Rede ist vom Linzer Stahlkonzern Voestalpine, der im La Quinta Trade Gateway, am Industriehafen von Corpus Christi, eine Direktreduktionsanlage errichtet. Ab 2016 wird hier Eisenschwamm produziert, der im 6.000 Kilometer entfernten Linz und Donawitz in den Hochöfen zu Stahl verschmolzen werden soll. Damit wandert ein erheblicher Teil der Stahlproduktion ab: Jene energie- und CO2-intensive Strecke der Hochofenroute, die mittels Koksverbrennung aus Eisenerz Roheisen macht.

Die Kalkulation der Voestalpine ist einfach: Rund 15 Prozent der Kosten der Stahlproduktion entfallen auf die Energie. Weitere 15 Prozent auf die Löhne. Beides ist in den USA günstiger zu haben. In den USA kostet das Gas für die Direktreduktion ein Viertel des europäischen Preises. In Corpus Christi werden Löhne von jährlich rund 37.000 Euro bezahlt. In Linz muss die Voestalpine 49.000 Euro berappen. Aber was vielleicht das Allerwichtigste ist: Der Industriegrund inklusive Zugang zum Tiefseehafen kostet die Voestalpine zehn Euro pro Quadratmeter – in Europa wäre Voestalpine-Chef Wolfgang Eder nicht unter 200 Euro im Geschäft.

Man kann Wolfgang Eder nicht vorwerfen, er hätte nicht versucht, die Wertschöpfung im Land zu halten: Noch 2010 plante er das Projekt Austro-Pellets. Am steirischen Erzberg hätte eine Pelletieranlage lokales Erz produzieren sollen. Ein positiver UVP-Bescheid lag bereits vor. Der steirische Landeshauptmann Voves jubelte in einer Aussendung schon von "200 neuen Arbeitsplätzen am Erzberg". Dann kam eine neue EU-Regelung für den CO2-Ausstoß. Die neue Anlage hätte CO2-Zertifikate in größerem Umfang benötigt. Nach einer Neuberechnung des Projektes zog Eder die Reißleine. Spätestens heuer, mit Inkrafttreten der neuen Richtlinien, wäre die Pelletieranlage heillos unrentabel gewesen.

Wolfgang Eder hat aus dieser Episode Schlüsse gezogen. Wachsen soll das Unternehmen in Zukunft abseits des Hochofens mit dem Walzen und Veredeln von Spezialstahl für die Automobilindustrie, den Energiesektor und den anspruchsvollen Anlagenbau. Und das soll vor allem abseits von Europa geschehen – dort, wo die Kunden sind: In kleinen, flexiblen Werken in China, in den USA, Südafrika.

Die klassische Stahlproduktion hat Eder längst abgeschrieben – auch wenn die Investition in Corpus Christi vordergründig Gegenteiliges nahelegt. Sie soll den verbliebenen Teil der Hochofenproduktion in Linz konkurrenzfähig halten. Auch weil er weiß, dass eine Schließung der Linzer Hochöfen politisch nicht umsetzbar wäre. Doch die Hochöfen werden für Eder immer unbedeutender. Nur noch 30 Prozent des Umsatzes machen die Linzer mit der Stahlkocherei. Tendenz weiter sinkend. Der europäischen Stahlindustrie prophezeit er Ähnliches. Im Interview macht er eine gewagte Aussage: 50 Prozent der europäischen Stahlproduktion werden bis 2030 nicht in Europa zu halten sein.

In seinen Präsentationsfolien hat Wolfgang Eder die Voestalpine daher längst zum Maschinenbaukonzern umdefiniert. Die stolze Voest, deren Erfindung des Linz-Donawitz-Verfahrens noch immer weltweit Hochöfen zum Glühen bringt, verabschiedet sich still und leise aus dem klassischen Stahlgeschäft. Wachstum in der lukrativen Bearbeitung und Veredelung von Stahl soll schaffen, was der mächtigste Stahlmanager der Erde, Lakshmi Mittal, nicht hinkriegt: Die Macht der Hochöfen niederringen.

Kann gut sein, dass sich Wolfgang Eder auch deshalb im Dezember um einen Nachfolger im Amt als Präsident der Vereinigung europäischer Stahlhersteller umsehen muss. Er legt sein Amt freiwillig zurück – weil er längst kein Stahlproduzent mehr sein will.

Herr Eder, vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass die Voestalpine im texanischen Corpus Christi eine Direktreduktionsanlage errichtet. Die mit 550 Millionen Euro größte Auslandsin­vestition in der Geschichte der Voestalpine wird Eisenerzkonzentrat herstellen, das in Linz und Donawitz in den Hochöfen zu Stahl verarbeitet wird. Damit wird ein Teil der Wertschöpfung in die USA verlegt: Jener Energie­- und CO2-­intensive Teil der Hochofenroute, der mittels Koksverbrennung aus Eisenerz Roheisen macht...

Wolfgang Eder: Das ist richtig. Wir stellen damit den österreichischen Stahlproduktionsstandorten in Linz und Donawitz Zugang zu kosten- und umweltfreundlichem Vormaterial zur Verfügung und sichern so die Konkurrenzfähigkeit unserer Werke langfristig ab.

Aber ist es nicht ein wenig pervers, dass es für ein europäisches Stahlunternehmen wirtschaftlicher ist, Roheisen in den USA zu produzieren und per Schiff und Bahn um den halben Globus zu liefern, als mit lokalem Erz die Hochofenroute zu fahren?

Eder: Das ist leider derzeit die europäische Realität. Der Industrie droht mit Energie- und Klimaschutz-Abgaben, Umweltauflagen und hohen Lohnnebenkosten die Vertreibung aus Europa. Wir haben viele Male nachgerechnet: Kann es sein, dass ich 5.000 oder 6.000 Kilometer Transportweg habe und trotzdem noch um so viel billiger produziere als in Europa? Ja, es kann sein.

Wie sieht denn die Kalkulation aus?

Eder: In den USA kostet das Gas, mit dem wir die Direktreduktionsanlage beitreiben, rund ein Viertel des europäischen Preises. Beim Strom liegen wir in den USA rund 30 Prozent unter den europäischen Kosten. Insgesamt schlägt Energie in der Stahlerzeugung mit rund 16 Prozent der Gesamtkosten zu Buche, die Lohnkosten mit 15 bis 18 Prozent. Und auch hier liegen wir in den USA deutlich günstiger. In den südlichen USA werden Löhne inklusive Arbeitgeberbeiträgen von jährlich rund 37.000 Euro bezahlt. In Linz liegen wir bei rund 49.000 Euro. Und schließlich nicht zu unterschätzen: Hätten wir in Europa einen gut erschlossenen Industriegrund kaufen wollen, wären wir im günstigsten Fall bei rund 100 Euro pro Quadratmeter, zumeist allerdings bei 200 Euro und darüber gelegen. In den USA kostet der Quadratmeter eines perfekt aufgeschlossenen Industriegrundstückes – inklusive Tiefseezugang – rund zehn Euro. Aufgrund all dieser Faktoren wird die Investition so wirtschaftlich, dass sie sich – auch unter sehr vorsichtigen Annahmen – in deutlich weniger als 10 Jahren rechnet.

Zu diesen hohen Kosten in Europa kommen für die Stahlindustrie dramatische Überkapazitäten. Die OECD spricht in einer Studie im Jahr 2012 von einer durchschnittlichen Auslastung von 75 Prozent. Mit anderen Worten: Würde europaweit ein Viertel aller Hochöfen heruntergefahren werden, würde das niemandem auffallen...

Eder: Das wahre Problem ist: Das ist keine Momentaufnahme. Wir müssen davon ausgehen, dass wir nie mehr wieder auf jenes Nachfrageniveau kommen, das in Europa vor der Lehman-Pleite geherrscht hat. Etwa im Baubereich – dem größten Bedarfsträger von Stahl. Der Bauboom in Südeuropa ist Geschichte. Schon aufgrund der Budgetrestriktionen der öffentlichen Hand in so gut wie allen europäischen Ländern wird es nie mehr wieder jenen Bedarf geben, den man zuvor hatte.

Auch der Bedarf des zweitgrößten europäischen Stahlverbrauchers, der Automobilindustrie, dürfte kein Wachstumstreiber sein...

Eder: Im Gegenteil. Die Automobilhersteller strukturieren ihre Produktionskapazitäten neu. Große Teile wandern aus Europa ab in die Wachstumsmärkte, das begleiten wir ja auch – nach China, Nordamerika oder Südafrika. Wir gehen davon aus, dass heuer in der EU nicht mehr als zwölf Millionen Autos produziert werden. Das ist fast ein Drittel weniger als vor 2009, da waren es rund 17 Millionen Stück. Diese Kapazitäten kommen nie mehr zurück. Aber auch ein dritter wichtiger Bereich ist zunehmend unter Druck: Der Bereich der Öl- und Gaslogistik: Im Pipelinebau kommen neue Konkurrenten aus der Türkei, der Ukraine und Russland, aber immer mehr auch aus Übersee.

Was bedeutet das für die europäische Stahlindustrie?

Eder: Wir haben einen zweifachen Negativeffekt: Zum einen schrumpft der Heim- markt massiv und zum anderen sinkt die Kostenkonkurrenzfähigkeit permanent. Vor allem im Bereich der Massenstähle – das sind rund 80 Prozent der Erzeugung in der EU – kann in immer mehr Ländern der Welt mit so hohen Kostenvorteilen produziert werden, dass sogar die Transportkosten damit abgedeckt sind. Wenn sich in den kommenden fünf Jahren auf der Kostenseite in Europa keine deutliche Wende zum Positiven ergibt, gehe ich davon aus, dass bis 2030 mehr als die Hälfte der heutigen Stahlproduktion in Europa nicht zu halten sein wird. Sie würde dann auf eine Größenordnung von 50 bis 70 Millionen Tonnen absinken.

Das wäre aber eigentlich marktwirtschaftlich begrüßenswert – und wird ja auch von Ihnen gefordert...

Eder: Aber es geht um das Wie. Der Rückzug soll kontrolliert, geplant und damit in sozial verträglicher Form für die Betroffenen erfolgen. Rechtzeitig entwickelte Sozialpläne, Arbeitsstiftungen, Umschulungs- und Betriebsansiedelungskonzepte würden Schließungen den Schrecken nehmen und den Menschen von vornherein ordentliche Perspektiven geben. Aber es wird – so fürchte ich – einfach weitergewurstelt wie bisher – und es besteht sogar vielmehr zunehmend die Gefahr, dass sich jene, die nach Subventionen rufen, durchsetzen. Damit aber würden die Probleme nur prolongiert und verschlimmert, so wie wir das in den 1980er-Jahren schon einmal erlebt haben. Werke, die mit Regierungsgeldern und EU-Subventionen erneuert werden, stellen dann eine Bedrohung für verbliebene profitable Hersteller dar, die ihre Hausaufgaben aus eigenem gemacht haben.

Wenn 2030 die Hälfte des Stahls nicht mehr aus Europa kommt, was heißt das für die nachgelagerten Industrien?

Eder: Die Bauindustrie etwa wird sich dann überwiegend aus Ländern wie der Türkei, der Ukraine oder Russland versorgen. In einem Worst-Case-Szenario ist aber auch nicht auszuschließen, dass Europa aufgrund verpasster Strukturreformen auch im Hightech-Stahlbereich an Konkurrenzfähigkeit einbüßt. Das könnte bedeuten, dass auch die europäische Autoindustrie, der anspruchsvolle Maschinenbau oder der Eisenbahnbereich nicht mehr mit europäischem Stahl beliefert würden. Eine solche Entwicklung würde die forcierte Abwanderung bzw. Globalisierung dieser Branchen befeuern. Wir reden dann nicht bloß von 360.000 Stahl-Arbeitsplätzen in Europa, sondern von über 20 Millionen in den nachgelagerten Industrien.

Entscheidungen, die Sie als Präsident des Europäischen Stahlverbandes mitgestalten können. Wie etwa jene der Europäischen Stahlinitiative, die auf EU­-Ebene angestoßen wurde. Ein Hoffnungsschimmer?

Eder: EU-Industriekommissar Antonio Tajani ist im Juni vergangenen Jahres auf die Stahlunternehmen mit dem Angebot zugekommen, in großer Runde, d. h. unter Beiziehung von Gewerkschaften und den zuständigen Ministern, die Grundsatzfragen der europäischen Stahlindustrie zu diskutieren und gemeinsame Lösungsansätze für die Zukunft zu sichern. Eine – wie ich glaube – durchaus verdienstvolle Initiative.

Worum geht es konkret in den Gesprächen?

Eder: Es geht um eine Reihe von Themen. Etwa um die Rahmenbedingungen für strukturelle Veränderungen in Europa. Welche Sozial- und Ausbildungsprogramme können hier erwartbare Härten abfedern? Aber es geht auch um Energiefragen, um wettbewerbsrechtliche Fragen, um Fragen der Rohstoffsicherung, um die Rolle der einzelnen Stakeholder und vieles mehr.

Wie empfinden Sie persönlich das Klima in den Gesprächen?

Eder: Es gibt derzeit ein wechselseitiges Zuhören. Ich sage bewusst nicht wechselseitiges Verständnis. Davon sind wir noch ein gutes Stück entfernt, aber es bildet sich zumindest so etwas wie eine Dialogplattform. Faktum ist allerdings, dass sowohl die politischen als auch die regionalen Meinungsunterschiede enorm groß sind.

Das klingt nach einer klassischen Pattsituation...

Eder: Es klingt nicht nur so, aber die Hoffnung stirbt zuletzt. Und miteinander zu reden, ist immerhin ein Anfang.