Produzieren und Entwickeln : Im Takt des Markts

Marco Gattringer-Ebner Gattringer geschäftsführer Lenze Austria
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Der ganze Irrsinn in einem Satz. „Wenn Sie mir meinen Bestand wegnehmen, dann lagere ich das Zeug eben in der Garage.“ Franz Staberhofer, der Leiter des Logistikums in Steyr, amüsiert sich noch heute über die Drohung. Zwar hatte ihn der Unternehmer engagiert, um die Supply Chain seines Betriebes auf Effizienz abzuklopfen, doch seine Schmerzgrenze machte er schnell klar: Hände weg vom Bestand! Es ist ein ungeliebtes Thema. Und ein erstaunlich emotionales. Das Bestandsmanagement rückt zwangsläufig stärker in den Fokus – spätestens seit 2009, als die nachlassende Nachfrage zu massiven Überbeständen führte. „Als der Bedarf dann plötzlich wieder anzog, hatten schon viele Unternehmen ihre Kapazitäten heruntergeschraubt. Das war ein Klassiker, das lief ab wie in einem BWL-Lehrbuch“, erzählt Marco Gattringer-Ebner. Der Geschäftsführer der Lenze Operations steht im Hochregallager, das Lenze vor zweieinhalb Jahren in Asten baute und das als eine der modernsten Logistikdrehscheiben Europas gilt. Und das vor allem ein Gefühl vermittelt: Außer Kontrolle gerät hier gar nichts.

Böser Kunde

Für außer Kontrolle geratene Bestände wird meist schnell ein Schuldiger identifiziert: Die Kunden und ihre steigenden Anforderungen. Wie weit man darauf Einfluss nehmen kann, darüber gehen die Meinungen auseinander. Andreas Tengler, dessen Barkawi Management Consultants vor kurzem eine Studie zum Bestandsmanagement durchführte, hält es durchaus für zielführend, das Thema möglichst oft in enger Kooperation mit den Kunden anzugehen. Einsparungen beim Bestand auf Kosten unnötiger Variantenvielfalt könnten Unternehmen letztlich sogar als Vertriebsargument nutzen. Auch die ordentliche Kundenkategorisierung sei wichtig: „Die Modalitäten sind ja in den meisten Fällen über die Jahre gewachsen, und wenn man das gezielt hinterfragt, stellt sich wohl manchmal auch die Frage: ,Und für diesen Kunden mache ich das?‘“, meint Tengler.

Im Reich des Marco Gattringer wird Variantenvielfalt etwas entspannter gesehen. Summiert man die möglichen Versionen für Getriebemotoren, kommt man auf ein Portfolio von sagenhaften 1026 Varianten. Dass sich dieser Druck nicht im Lager entlädt, funktioniert, indem man ihn in Design und Produktion umleitet, erklärt der Lenze-Chef: „Die Produktion muss gut organisiert sein, damit die Bestände nicht explodieren. Es sind Hausaufgaben, die man bereits im Produktdesign und -entwicklung erledigen muss, etwa in Form von variantentauglichen und modularen Baukästen mit einem möglichst späten ,Kundenentkopplungspunkt“. Die Erwartungen der Kunden könnten Unternehmen zwar – bedingt – triggern, sagt Gattringer: „Wenn Sie jedoch einmal Ihr Portfolio erweitert haben, können Sie eine Reduktion gegenüber den Kunden nach meiner Erfahrung nie wieder durch- setzen.“

Ähnlich wird das wenige Kilometer entfernt gesehen. Auch Greiner Tool.Tec ist mit hoher Variantenvielfalt konfrontiert. Angesichts zweier Produktionsbereiche gibt es zwei Reaktionen darauf. Das Unternehmen ist einerseits Werkzeugbauer, typische Kunden sind etwa Hersteller von Kunststofffenstern, denen Greiner die Werkzeuge zum Formen liefert. „Die werden immer individuell gefertigt“, sagt der Kaufmännische Leiter von Greiner Production Network. „Der kritischste Posten ist in diesem Bereich der Werkzeugstahl. Andererseits sind wir Maschinenbauer. In diesem Bereich bieten wir ausgehend von Standardplattformen eine große Vielfalt an Optionen an. Hier begegnen wir einem Anwachsen der Bestände, indem wir möglichst viel über Modulbauweise lösen. Spezielle Kundenwünsche wer- den beim jeweiligen Auftrag individuell entwickelt und realisiert.

Böser Vertrieb

Der Farbenhandel ist ein typisches Beispiel, meint Gregor Gluttig, der Autor der Barkawi-Studie. In der Praxis laufe es doch oft so: „Der Verkäufer verkauft dem Kunden eine Sondervariante eines Farbgebindes. Die Produktion muss diese Sondervariante in Form von Maschinenumstellungen berücksichtigen, die Logistik muss darauf achten, diese Gebinde speziell zu verpacken und zu transportieren, und die Buchhaltung muss die Rechnung manuell erstellen.“ Das wäre ja soweit in Ordnung, würden die Kosten auch an die Kunden weitergereicht. Tatsächlich aber versickerten die Kosten, die man mangels Prozesskostenrechnung nicht einmal genau kenne. „Das ist aber ein immer gravierenderes Problem, da Lagerkosten und Kosten für Handling in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen sind.“ Böser Vertrieb also? Auch Franz Staberhofer sieht die Tendenz von Vertriebsmitarbeitern, im Zweifelsfall eine weitere Variante draufzulegen. „Normalerweise machen sich Einkauf und Verkauf die Geschäfte mit Lieferanten und Kunden aus, sind aber über die Hintergründe meist nicht informiert und oft auch nicht daran interessiert.“

Eine Tatsache, die in Kremsmünster ziemlich gelassen gesehen wird. „Wenn es ein Produkt gibt, das technisch machbar ist, dann wird das auch angeboten“, sagt Günter Fellner. Der Vertrieb unterliege dabei keinerlei Einschränkungen. Und falls eine Steigerung der Variantenvielfalt zu steigenden Beständen führt, dann sei dieses Problem eben vom Bestandsmanagement zu lösen. Selbstverständlich, sagt Fellner, ist das Bestandsmanagement auch bei Greiner keine Insel: Verantwortet von der Disposition, erfolge permanenter Austausch mit strategischem Einkauf und Vertrieb. Doch wenn Letzterer höhere Bestände verursacht, gebe es definitiv keinen „Rüffel“.

Apropos Disposition: Den berühmten Spruch, in der Dispo könne man ohnehin nur alles falsch machen, kennt auch Marco Gattringer. „Wenn die Mitarbeiter dafür bestraft werden, dass etwas fehlt, dann darf sich das Unternehmen nicht wundern, wenn die Bestände in die Höhe gehen. Bestandsmanagement hat viel mit der Kultur in einem Unternehmen zu tun – da geht es um klare Ziele, Veränderungswillen und Offenheit, aber auch um Konsequenz.“ Konsequenz, die bei Lenze auch den Vertrieb einbezieht. Darauf zu hoffen, dass dieser den Bestand schon „mitdenken“ werde, sei kein guter Plan, meint Gattringer. „Nötig sind klare Regeln, die dem Verkauf kommuniziert werden und die mit ihm abgesprochen sind. Die Erfahrung zeigt ja: Gibt man dem Verkauf keine Tools in die Hand, dann neigen die Bestände tatsächlich dazu, größer zu werden.“

Böses Servicemodell

Franz Staberhofer und die Konsignationslager – das wird keine Liebesbeziehung mehr. Ein „Zeichen für Inkonsequenz“ sind sie in seinen Augen, einzig dazu da, Kosten zu verstecken. Warum es sie dann überhaupt gibt? „Weil Feigheit herrscht gegenüber Servicemodellen.“ Eine Feigheit, die der zu saftiger Polemik neigende FH-Professor Lenze wohl kaum unterstellen wird. In Asten hat man zum Geschäftsmodell gemacht, was zunächst wohl eher wenig Freude bereitete.

Das klassische Beispiel, erzählt Marco Gattringer, ist etwa ein Kunde mit Fließmontage, der die Strategie verfolgt, sich direkt ans Band beliefern zu lassen. Der aber auch bereit ist, den entsprechenden Mehraufwand zu bezahlen. „Natürlich habe ich so mehr Aufwand, aber diese Anforderung wird ganz einfach immer häufiger. Die Unternehmen wollen auch ihre Bezugs- quellen reduzieren. Zu Beginn war das wohl eher etwas, das man in Kauf nehmen musste, um einen Kunden nicht zu verlieren – heute ist es ein Geschäftsmodell. Wir vermarkten diese Dienstleistung heute aktiv. Auch bei Lenze gibt es erste Projekte in Richtung Konsignationslager. „Es gab aus der Sicht von Effizienz und Bestandsminimierung einen gewissen Druck in diese Richtung. Die Lager sind dabei nicht das eigentliche Problem – sondern die Bestände. Konsignationsbestände sind tatsächlich keine Kostenvermeidung, sondern Kostenverschiebung. Bei bestimmten Produktgruppen, vor allem C-Teilen, kann das aber durchaus ein geeignetes Mittel sein, weil hier der Abstimmungsaufwand geringer ist als eine Optimierung der Supply Chain.“

Der Weg über neue Servicemodelle setzt oft auch am anderen Ende der Supply Chain an. Über Rahmenverträge können erstaunliche Effekte erzielt werden, sagt Staberhofer. Greiner etwa geht diesen Weg konsequent: Auf der Seite des Einkaufs gibt es immer häufiger „sehr großzügige Rahmenverträge mit den Lieferanten“. Etwa solche über eine Jahresmenge, aber mit einer Laufzeit von zwei bis drei Jahren. Versorgungssicherheit – ohne dabei Kapital zu binden.

Dass neue Servicemodelle auf Widerstand treffen, ist naheliegend, setzen sie doch eingehende Kenntnis der Logistik und der Wünsche des Kunden voraus. Franz Staberhofer sieht auch eine starke psychologische Komponente wirken: „Servicemodelle nehmen den Verkäufern ja auch ihr Heldentum.“

Böse Bestände?

Auch wenn der Fokus in den vergangenen Jahren stärker auf das Bestandsmanagement rückte: Reine Minimierung bringt per se gar nichts. „Klar sind Erfolge hier schnell messbar“, sagt Günter Fellner, „aber spätestens, wenn Sie auf einmal nicht mehr lieferfähig sind, zeigen sich die Auswirkungen auf Produktion und Vertrieb. Dann ist es aber leider zu spät.“ Bestände an sich seien ja nichts Böses, betont auch Franz Staberhofer, solange man sich auf die aktiven Aspekte des Bestandsmanagements konzentriere. Was ein Umbetten der Bestände in die Garage wohl eher ausschließt.

Studie

„Die Gespräche waren teilweise äußerst aufschlussreich“, sagt Andreas Tengler, „aber manche auch eher erschreckend.“ Vertreter von 85 Industrieunternehmen aus unterschiedlichsten Branchen hatten die Barkawi Management Consultants interviewt. Das Ziel: die Ermittlung des Status quo und eines Zukunftsausblicks im Bestandsmanagement heimischer Industriebetriebe. Barkawi-Österreich- Chef Andreas Tengler zieht ein eher ernüchtertes Fazit: „Im Großen und Ganzen sehe ich nur Bestandsoptimierungen, aber sehr wenig Bestandsmanagement. Im Vordergrund steht meist einfach, zum Jahreswechsel die Bestände unten zu haben.“

Dass die Verbesserung der Bestände ein zentrales Thema ist, sehen die Befragten durchaus. Mit einem Durchschnittswert von 3,9 (bei 0 = keine Priorität und 5 = hohe Priorität im Unternehmen) wird dem Bestandsmanagement ein hoher Wert attestiert. Das Einsparungspotenzial durch entsprechende Maßnahmen sehen die Firmen im Schnitt bei erstaunlich hohen 15 Prozent der gesamten Bestandskosten. Die Automotive-Unternehmen, die ja im Ruf stehen, diesbezüglich besonders hohe Kompetenz zu haben, halten sogar 17 Prozent für möglich.

Wenig überraschend die Antworten auf die Frage nach den Hauptverantwortlichen für wachsende Bestände: Fast 40 Prozent der Befragten nennen die gestiegenen Erwartungen der Kunden an die Lieferbereitschaft, weitere 31 Prozent die daraus resultierende angewachsene Komponentenvielfalt.

Und wozu dienen Bestände überhaupt? Ein Drittel der Firmen nennt die Erhöhung der Lieferbereitschaft, erst an zweiter und dritter Stelle folgen mit je rund 20 Prozent die Aspekte „Puffer gegen Bedarfsschwankungen“ und „Effizientere Prozesse“. Skaleneffekte im Einkauf beispielsweise spielen eine absolut untergeordnete Rolle.

Interessant auch die Antworten auf die Frage nach den Hindernissen: Je ein knappes Drittel der Umfrageteilnehmer erklärt, fehlende zeitliche Ressourcen bzw. mangelndes Know-how stünden einem modernen Bestandsmanagement im Unternehmen im Weg. 28 Prozent sagen, der Widerstand der Mitarbeiter oder sogar des Managements sei einfach zu groß.