Stahlindustrie : Voestalpine-Chef Eder: „Bis 2030 wird die Hälfte der europäischen Stahlproduktion nicht mehr zu halten sein“

INDUSTRIEMAGAZIN: Herr Eder, vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass die Voestalpine im texanischen Corpus Christi eine Direktreduktionsanlage errichtet. Die mit 550 Millionen Euro größte Auslandsinvestition in der Geschichte der Voestalpine wird Eisenerzkonzentrat herstellen, das in Linz und Donawitz in den Hochöfen zu Stahl verarbeitet wird. Damit wird ein Teil der Wertschöpfung in die USA verlegt: Jener Energie­ und CO2-­intensive Teil der Hochofenroute, der mittels Koksverbrennung aus Eisenerz Roheisen macht ... Wolfgang Eder: Das ist richtig. Wir stellen damit den österreichischen Stahlproduktionsstandorten in Linz und Donawitz Zugang zu kosten- und umweltfreundlichem Vormaterial zur Verfügung und sichern so die Konkurrenzfähigkeit unserer Werke langfristig ab. Aber ist es nicht ein wenig pervers, dass es für ein europäisches Stahlunternehmen wirtschaftlicher ist, Roheisen in den USA zu produzieren und per Schiff und Bahn um den halben Globus zu liefern, als mit lokalem Erz die Hochofenroute zu fahren? Eder: Das ist leider derzeit die europäische Realität. Der Industrie droht mit Energie- und Klimaschutz-Abgaben, Umweltauflagen und hohen Lohnnebenkosten die Vertreibung aus Europa. Wir haben viele Male nachgerechnet: Kann es sein, dass ich 5000 oder 6000 Kilometer Transportweg habe und trotzdem noch um so viel billiger produziere als in Europa? Ja, es kann sein. Wie sieht denn die Kalkulation aus? Eder: In den USA kostet das Gas, mit dem wir die Direktreduktionsanlage betreiben, rund ein Viertel des europäischen Preises. Beim Strom liegen wir in den USA rund 30 Prozent unter den europäischen Kosten. Insgesamt schlägt Energie in der Stahlerzeugung mit rund 16 Prozent der Gesamtkosten zu Buche, die Lohnkosten mit 15 bis 18 Prozent. Und auch hier liegen wir in den USA deutlich günstiger. In den südlichen USA werden Löhne inklusive Arbeitgeberbeiträgen von jährlich rund 37.000 Euro bezahlt. In Linz liegen wir bei rund 49.000 Euro. Und schließlich nicht zu unterschätzen: Hätten wir in Europa einen gut erschlossenen Industriegrund kaufen wollen, wären wir im günstigsten Fall bei rund 100 Euro pro Quadratmeter, zumeist allerdings bei 200 Euro und darüber gelegen. In den USA kostet der Quadratmeter eines perfekt aufgeschlossenen Industriegrundstückes – inklusive Tiefseezugang – rund 10 Euro. Aufgrund all dieser Faktoren wird die Investition so wirtschaftlich, dass sie sich – auch unter sehr vorsichtigen Annahmen – in deutlich weniger als 10 Jahren rechnet. Lesen Sie weiter: "Stahlproduktion in Europa könnte auf 50 bis 70 Millionen Tonnen absinken"

Zu diesen hohen Kosten in Europa kommen für die Stahlindustrie dramatische Überkapazitäten. Die OECD spricht in einer Studie im Jahr 2012 von einer durchschnittlichen Auslastung von 75 Prozent. Mit anderen Worten: Würde europaweit ein Viertel aller Hochöfen heruntergefahren werden, würde das niemandem auffallen ... Eder: Das wahre Problem ist: Das ist keine Momentaufnahme. Wir müssen davon ausgehen, dass wir nie mehr wieder auf jenes Nachfrageniveau kommen, das in Europa vor der Lehman-Pleite geherrscht hat. Etwa im Baubereich – dem größten Bedarfsträger von Stahl. Der Bauboom in Südeuropa ist Geschichte. Schon aufgrund der Budgetrestriktionen der öffentlichen Hand in so gut wie allen europäischen Ländern wird es nie mehr wieder jenen Bedarf geben, den man zuvor hatte. Auch der Bedarf des zweitgrößten europäischen Stahlverbrauchers, der Automobilindustrie, dürfte kein Wachstumstreiber sein ... Eder: Im Gegenteil. Die Automobilhersteller strukturieren ihre Produktionskapazitäten neu. Große Teile wandern aus Europa ab in die Wachstumsmärkte, das begleiten wir ja auch – nach China, Nordamerika oder Südafrika. Wir gehen davon aus, dass heuer in der EU nicht mehr als 12 Millionen Autos produziert werden. Das ist fast ein Drittel weniger als vor 2009, da waren es rund 17 Millionen Stück. Diese Kapazitäten kommen nie mehr zurück. Aber auch ein dritter wichtiger Bereich ist zunehmend unter Druck: Der Bereich der Öl- und Gaslogistik: Im Pipelinebau kommen neue Konkurrenten aus der Türkei, der Ukraine und Russland, aber immer mehr auch aus Übersee. Was bedeutet das für die europäische Stahlindustrie? Eder: Wir haben einen zweifachen Negativeffekt: Zum einen schrumpft der Heimmarkt massiv und zum anderen sinkt die Kostenkonkurrenzfähigkeit permanent. Vor allem im Bereich der Massenstähle – das sind rund 80 Prozent der Erzeugung in der EU – kann in immer mehr Ländern der Welt mit so hohen Kostenvorteilen produziert werden, dass sogar die Transportkosten damit abgedeckt sind. Wenn sich in den kommenden fünf Jahren auf der Kostenseite in Europa keine deutliche Wende zum Positiven ergibt, gehe ich davon aus, dass bis 2030 mehr als die Hälfte der heutigen Stahlproduktion in Europa nicht zu halten sein wird. Sie würde dann auf eine Größenordnung von 50 bis 70 Millionen Tonnen absinken. Das wäre aber eigentlich marktwirtschaftlich begrüßenswert – und wird ja auch von Ihnen gefordert ... Eder: Aber es geht um das Wie. Der Rückzug soll kontrolliert, geplant und damit in sozial verträglicher Form für die Betroffenen erfolgen. Rechtzeitig entwickelte Sozialpläne, Arbeitsstiftungen, Umschulungs- und Betriebsansiedelungskonzepte würden Schließungen den Schrecken nehmen und den Menschen von vornherein ordentliche Perspektiven geben. Aber es wird – so fürchte ich – einfach weitergewurstelt wie bisher – und es besteht sogar vielmehr zunehmend die Gefahr, dass sich jene, die nach Subventionen rufen, durchsetzen. Damit aber würden die Probleme nur prolongiert und verschlimmert, so wie wir das in den 1980er-Jahren schon einmal erlebt haben. Werke, die mit Regierungsgeldern und EU-Subventionen erneuert werden, stellen dann eine Bedrohung für verbliebene profitable Hersteller dar, die ihre Hausaufgaben aus eigenem gemacht haben. Lesen Sie weiter: "Wir reden von 20 Millionen Arbeitsplätzen in den nachgelagerten Industrien"

Wenn 2030 die Hälfte des Stahls nicht mehr aus Europa kommt, was heißt das für die nachgelagerten Industrien? Eder: Die Bauindustrie etwa wird sich dann überwiegend aus Ländern wie der Türkei, der Ukraine oder Russland versorgen. In einem Worst-Case-Szenario ist aber auch nicht auszuschließen, dass Europa aufgrund verpasster Strukturreformen auch im Hightech-Stahlbereich an Konkurrenzfähigkeit einbüßt. Das könnte bedeuten, dass auch die europäische Autoindustrie, der anspruchsvolle Maschinenbau oder der Eisenbahnbereich nicht mehr mit europäischem Stahl beliefert würden. Eine solche Entwicklung würde die forcierte Abwanderung bzw. Globalisierung dieser Branchen befeuern. Wir reden dann nicht bloß von 360.000 Stahl-Arbeitsplätzen in Europa, sondern von über 20 Millionen in den nachgelagerten Industrien. Entscheidungen, die Sie als Präsident des Europäischen Stahlverbandes mitgestalten können. Wie etwa jene der Europäischen Stahlinitiative, die auf EU­Ebene angestoßen wurde. Ein Hoffnungsschimmer? Eder: EU-Industriekommissar Antonio Tajani ist im Juni vergangenen Jahres auf die Stahlunternehmen mit dem Angebot zugekommen, in großer Runde, d. h. unter Beiziehung von Gewerkschaften und den zuständigen Ministern, die Grundsatzfragen der europäischen Stahlindustrie zu diskutieren und gemeinsame Lösungsansätze für die Zukunft zu sichern. Eine – wie ich glaube – durchaus verdienstvolle Initiative. Hier geht es weiter: "Die Hoffnung stirbt zuletzt"

Worum geht es konkret in den Gesprächen? Eder: Es geht um eine Reihe von Themen. Etwa um die Rahmenbedingungen für strukturelle Veränderungen in Europa. Welche Sozial- und Ausbildungsprogramme können hier erwartbare Härten abfedern? Aber es geht auch um Energiefragen, um wettbewerbsrechtliche Fragen, um Fragen der Rohstoffsicherung, um die Rolle der einzelnen Stakeholder und vieles mehr. Wie empfinden Sie persönlich das Klima in den Gesprächen? Eder: Es gibt derzeit ein wechselseitiges Zuhören. Ich sage bewusst nicht wechselseitiges Verständnis. Davon sind wir noch ein gutes Stück entfernt, aber es bildet sich zumindest so etwas wie eine Dialogplattform. Faktum ist allerdings, dass sowohl die politischen als auch die regionalen Meinungsunterschiede enorm groß sind. Das klingt nach einer klassischen Pattsi­tuation ... Eder: Es klingt nicht nur so, aber die Hoffnung stirbt zuletzt. Und miteinander zu reden, ist immerhin ein Anfang. Zur Person Wolfgang Eder, 61, ist Vorstandsvorsitzender der Voestalpine AG. Der gebürtige Oberösterreicher studierte Jus und trat 1978 als Experte für Gesellschaftsrecht in die Voestalpine AG ein. Von 1995 bis 2001 war er Mitglied des Vorstands der Voestalpine Stahl AG, seit 2004 ist er Vorstandsvorsitzender des Stahlherstellers. Eder ist verheiratet und Vater einer Tochter und eines Sohns.Interview: Rudolf Loidl Lesen Sie auch: Déjà vu - die Stahlindustrie krankt heute an denselben Problemen wie schon in den 80er Jahren.