Interview : "Statt in Ranshofen in den USA zu investieren wäre kompletter Unsinn"

Helmut Wieser AMAG
© Matthias Heschl

Helmut Wieser sitzt entspannt in seinem Lederdrehstuhl. Auf dem rotbraunen Holzschreibtisch (die Beine, natürlich, aus Aluminium) flimmert ein Bildschirm und lädt ein iPad. Die Visitkarte, die er überreicht, ist dezent wie er selbst. In den USA hielt man ihn einst für einen Diplomaten, weil er auf seinen alten österreichischen Karten „Diplomingenieur“ stehen hatte. Heute, nach zehn Jahren in den USA, trägt er mit „Generaldirektor“ wieder so einen Titel auf der Karte. Das ließ sich nicht vermeiden, wie er schmunzelnd meint. Das Leben des Mannes, der mit seinem perfekt geschnittenen Anzug hier fast ein wenig deplatziert wirkt, ist voller spannender Geschichten. Olympiade in Moskau, Anlagenbau in Venezuela, Management in Manhattan: Vor genau zwölf Monaten kehrte der einstige AMAG-Sanierer als Vorstandsvorsitzender nach Ranshofen zurück. Der Wechsel vom Hudson an den Inn fiel ihm nicht schwer, zumindest macht es diesen Anschein, wenn er sich zurücklehnt und den Gesprächspartner freundlich taxiert ...

INDUSTRIEMAGAZIN: Herr Wieser, wie wird man Moderner Fünfkämpfer?

Helmut Wieser Ich habe in meiner frühen Jugend meine Eltern so lange angebettelt, bis sie mir ein Pferd kauften. Ich war damals ein ständiger Turnierkonkurrent der späteren Olympiasiegerin Sissy Theurer – mit dem Unterschied, dass sie sechs Pferde zur Verfügung hatte und ich eines. Aber wir kamen zurecht. Die Teilnahme an Olympischen Spielen war dabei immer mein erklärtes Ziel. Als mein Pferd und ich bei Jugend-Europameisterschaften am Graben stolperten und sich mein Pferd schwer verletzte, war mir klar, dass ich im Reitsport mit einem Pferd keine Chance gegen die nationale und internationale Konkurrenz hatte.

Moderner Fünfkampf ist nicht unbedingt ein Volkssport ...

Wieser Es gab damals einen Fünfkämpfer und starken Turnierreiter, Peter Zobl-Wessely, Olympiateilnehmer im Modernen Fünfkampf 1972 und 1976 als Degenfechter, der ist bei Military-Rennen stets den 15-km-Parcours vorher abgelaufen. Das hat mich schwer beeindruckt. Schwimmen und Leichtathletik sind mir immer schon gelegen, den Rest habe ich dazugelernt. So habe ich dann zehn Jahre lang im Modernen Fünfkampf professionell trainiert.

Was bedeutet das?

Wieser Über Jahre hinweg jeden Tag acht Stunden Training.

Was mit einer Olympiateilnahme 1980 in Moskau belohnt wurde ...

Wieser (lacht) Mit Platz 38 bei der Olympiade, um genau zu sein. Damit bin ich heute noch unzufrieden. Es hätte ein Rang unter den ersten 20 werden sollen.

Reiten Sie heute noch?

Wieser Ich habe noch ein eigenes Pferd, aber es fehlt die nötige Zeit.

Seit dem Frühjahr 2014 sind Sie Vorstandsvorsitzender der AMAG und verantworten Investitionen in Höhe von 550 Millionen bis 2017. Mit welcher Strategie?

Wieser Wir müssen jetzt investieren, wenn wir zuverlässige Lieferanten für die großen Abnehmer bleiben wollen. Wir fahren derzeit mit praktisch 100-prozentiger Kapazitätsauslastung – und es entspricht den Kundenwünschen, mehr zu liefern.

Es herrscht aber nicht gerade Aluminium-Knappheit am Weltmarkt ...

Wieser Bei speziellen Gütern und innerhalb bestimmter Anwendungsgebiete schon. Ich habe im vergangenen Jahr nach meinem Jobantritt unsere 20 Topkunden weltweit besucht. Bei jedem Gespräch gab es die gleiche Botschaft. Jeder Kunde hat für die nahe Zukunft mehr Bedarf angemeldet. Die Situation ist die, dass wir heute Kontrakte über Mengen abschließen, die erst 2016 geliefert werden.

Sie haben zuletzt zehn Jahre lang als Vorstandsmitglied bei ALCOA in Manhattan gelebt. ALCOA ist der zweitgrößte Aluminiumkonzern der Welt mit – zu Ihrer Zeit – 120.000 Mitarbeitern. Wie schwer ist da der Umstieg auf den Standort Ranshofen?

Wieser Ganz leicht. Als ich von 1990 bis 2000 das erste Mal zur AMAG gekommen bin, hat es geheißen, dass Ranshofen für Managementaufgaben interessant sei, dass der Standort aber ein Problem sei. Heute ist das genau umgekehrt. Der Standort ist ein Asset.

Keine Autobahn, keine Wasserstraße, kein Flughafen, keine Rohstoffe, kein Großkraftwerk. Das müssen Sie erläutern.

Wieser Wir fahren 100 Kilometer nach München, sind in weniger als 500 Kilometern in Wolfsburg und Turin. In diesen Regionen treffe ich auf Industriecluster, die vor Dynamik strotzen. BMW liefert ein Rekordergebnis nach dem anderen, Audi prosperiert in Ingolstadt, auch Siemens behauptet seine Rolle als Weltkonzern. Und zur VW-Gruppe haben wir natürlich auch eine gewisse Nähe, auch personell. Ursula Piëch (Ehefrau von Ferdinand Piëch und bis vor kurzem VW-Aufsichtsrätin, Anm.) kommt ja aus Braunau. Dazu kommen zentrale Zulieferer von Airbus bis Boeing. Wir finden uns derzeit inmitten einer Revolution im Automobilbau, aber auch in der Flugzeugindustrie. Und der Werkstoff Aluminium ist dabei eindeutiger Sieger und Hoffnungsträger.

Wie verlässlich sind diese Aussagen?

Wieser Die EU-Emissionsvorgaben für den Flottenverbrauch zwingen die Automobilkonzerne in den kommenden fünf Jahren zu einem enormen Innovationsschub. Sie müssen den Durchschnittsverbrauch von 140 g CO2-Ausstoß pro 100 km auf 95 g bis 2020 drosseln. Dafür braucht es leichtere Autos. Und die werden ganz oder teilweise aus Aluminium sein. Die alte C-Klasse von Mercedes fuhr mit acht Prozent Aluminium in der Karosserie. Die neue, im Herbst auf den Markt gekommene C-Klasse hat 50 Prozent Aluminium. Das ist ein Quantensprung. Fiat-Chrysler hat ebenfalls gerade entschieden, den neuen Wrangler mit Alu-Karosserie zu bauen. Da sind Weichenstellungen über Jahrzehnte zugunsten des Werkstoffes Aluminium getroffen worden. Das gilt auch für viele andere Autokonzerne und – mit einem völlig anderen Qualitätsanspruch – für die Luftfahrt. Wir sind in diesem Aufbruchprozess mittendrin.

Haben Sie für Ihre aktuellen Investitionen Standortalternativen geprüft?

Wieser Es würde von einem totalen Unverständnis zeugen, wenn wir in den USA oder China und nicht in Ranshofen investieren. BMW, Audi, Fiat, VW wollen uns hier, 100 oder 500 Kilometer von ihren Werken entfernt. Sie wissen, dass wir durch unser Know-how und unseren extrem hohen Recyclinganteil von 80 Prozent nicht nur die Technologie, sondern auch den richtigen Preis bieten können.

Sie verzichten auf jedes Standort-Bashing?

Wieser Mir ist bewusst, dass dies derzeit nicht der Sichtweise anderer österreichischer CEOs entspricht. Aber Österreich ist ein stabiles Land, ich habe ein konkurrenzfähiges Produkt und ich habe Kunden im machbaren Umkreis. Und darüber hinaus finde ich hier exzellente Mitarbeiter. Das ist ein extrem zentrales Argument. Wir holen uns die Diplomanden und Doktoranden aus Universitäten in ganz Europa. Und die meisten bleiben bei uns. Die Menschen kommen gerne nach Ranshofen. Wer sagt, da bringe man niemanden hin, weil alle in München und Mailand arbeiten wollen, der ist ahnungslos.

Wo schneiden heimische Techniker und Fachkräfte im Vergleich mit den USA ab?

Wieser „Toptalent.“ Wäre ich noch in meinem vorigen Job, würde ich jeden Mitarbeiter nehmen, den ich auch in Ranshofen genommen habe. Sofort. Der Mitarbeiterstandard, mit dem ich hier konfrontiert werde, hat mich wirklich beeindruckt. Wenn ich mit meinen Leuten bei Boeing in Seattle bin, bei Apple in Cupertino, in China oder Japan, dann sehe ich, dass sie überall zu Hause sind. Bestes Englisch, dynamisch. Und das war früher nicht so.

Viele der führenden AMAG-Mitarbeiter sind in den vergangenen sieben Jahren von Siemens VAI zur AMAG übergewechselt. Ihr Vorgänger Falch war selbst langjähriger VAI-Chef. Das gerade eröffnete Warmwalzwerk hat dann der erbittertste Konkurrent Danieli gebaut. Eine Retourkutsche an Siemens?

Wieser Die VAI war zum Zeitpunkt der Vergabe extrem im Umbruch. Ich weiß noch aus meiner früheren Tätigkeit, dass es immer schwer war, bei Siemens VAI den richtigen Ansprechpartner zu finden: Als Kunde hatte man es bei der VAI zuletzt nicht immer einfach. Ich habe früher ein Walzwerk mit der Siemens VAI in China gebaut. Und ich wollte aufgrund meiner früheren Erfahrungen einen Projektleiter aus Linz in China haben. Das habe ich nicht geschafft. Das Projekt wurde in den USA bearbeitet. Beim Warmwalzwerk in Ranshofen war Danieli zudem Bestbieter – mit Abstand.

Wird Konkurrenz bald Ihr Geschäft beleben?

Wieser In den USA investiert derzeit ein Mitbewerber in ein Kaltwalzwerk, das hat aber wenig Auswirkungen auf Europa. In Westeuropa kann kaum jemand nachziehen, weil eine Primärproduktion, in der neues Aluminium geschmolzen wird, sich bei den Energiekosten nicht rechnet. Und unser Recycling-Aluminium, das bei wesentlich geringerem Energieeinsatz zu niedrigeren Gestehungskosten produziert wird, kann aus technischen und auch aus Rohstoffgründen nicht beliebig nachgemacht werden. Ranshofen hat einen Energiebedarf, der bei 20 Prozent eines herkömmlichen Aluwerkes liegt. Wir brauchen geschätzt nicht mehr Strom als Wiesner & Hager, um in der Region zu bleiben – das bei garantierter Qualität, die bei den Kunden bereits seit Jahrzehnten in Gebrauch ist.

Zurück zu Ihrer Person: Ihre Biografie spricht ja nicht gerade für Verwurzelung. Sieben Jahre Venezuela, zwei Jahre Genf, ein Jahr Madrid, zehn Jahre in den USA, Sie haben die Hälfte ihres Berufslebens im Ausland verbracht. Jetzt kommen Sie aus Manhattan nach Ranshofen zurück. Warum?

Wieser Ich bekam aus der AMAG das Angebot, den Job des CEO zu machen. Es war für mich immer ein Ziel, die Führung einzunehmen. Vielleicht ist das auch noch ein Relikt aus meiner Sportlerzeit. Es ist wichtig, etwas federführend zu entwickeln.

Es war ja nicht das erste Mal, dass der Chefsessel der AMAG für Sie bereitet wurde ...

Wieser Es gab im Jahr 2000 Perspektiven, in der AMAG CEO zu werden. Dann hat Herr Hammerer (1996 bis 2007 CEO, 40-Prozent-Eigner AMAG, Anm.) entschieden, dass er noch eine Funktionsperiode im Vorstand anhängt und fünf Jahre bleibt. Daraufhin habe ich ein Angebot von ALCOA genutzt und dort offensichtlich meine Sache halbwegs richtig gemacht. 2008 war ich im Auswahlprozess als ALCOA-CEO, als Klaus Kleinfeld bei Siemens ausgeschieden ist. Kleinfeld war bei uns schon im Aufsichtsrat und brachte die Laufbahn eines CEO von damals 400.000 Mitarbeitern und 100 Milliarden Dollar Umsatz mit. Da war intern klar, dass die Entscheidung in diese Richtung geht. Ich bin es nicht geworden, und das war für mich eine wichtige Erfahrung.

Wie unterschiedlich ist Vorstandsverantwortung bei einem großen Wall-Street-Unternehmen und bei der AMAG, die mit zehn Prozent an der Wiener Börse gelistet ist?

Wieser Ich war ab 2006 Leiter einer der drei ALCOA-Divisionen. „Global President of Rolled Products“ hat das geheißen, mit 22 Standorten und 20.000 Mitarbeitern. Und ALCOA ist „an American icon“ an der Wall Street. Die dortigen Anforderungen sind enorm. Die Arbeitszeit eines Wall-Street-Vorstandes läuft sieben Tage die Woche und 24 Stunden am Tag. Es gibt keine Pause und keine Schwächen, und das ist keine Floskel. Bei 22 Standorten weltweit, in allen Zeitzonen, zwickt es immer irgendwo. Bei der AMAG bin ich für einen Standort und eine Beteiligung in Kanada verantwortlich. In meiner aktuellen Situation sind die eigenen Ressourcen nicht mehr so ausgereizt, wie dies in den Wall-Street-Jahren der Fall war.

Für US-Begriffe sind Sie jetzt in einem relativ kleinen Unternehmen tätig. Ist dies ein Rückschritt?

Wieser Das spielt keine wichtige Rolle. Ob ich jetzt in meinen Werken sechs Milliarden Umsatz mache oder eine Milliarde, wie wir das demnächst erreichen werden, das spielt in der Verantwortung und den operativen Aufgaben keine wesentliche Rolle. In meinem früheren Job verbrachte ich gut 50 Prozent meiner Zeit mit Conference-Calls. Es war egal, wo ich mich befand, immer gab es virtuelle Meetings. Und viel Zeit floss in Personalentscheidungen. Wer macht für uns was in China, in Australien, das waren entscheidende Fragen. Wenn nun bei uns in der AMAG Entscheidungen zu treffen sind, dann tun wir das in kürzester Zeit.

Verstehen Sie, dass Ihr CEO-Kollege von der Voestalpine, Wolfgang Eder, sich immer wieder bitterlich über den Industriestandort Österreich beklagt?

Wieser Um ehrlich zu sein: Überhaupt nicht. Ich bin sehr zufrieden. Aber ich habe den Vorteil, meine Primärschmelze mit hohem Energieverbrauch auf Basis Wasserkraft und niedrigen Energiekosten seit 1992 in Kanada zu haben. Die Voestalpine ist mit dem Bau des Werkes in Texas gerade dabei, einen derartigen Schritt zu setzen.

Was halten Sie von den relativ hohen europäischen Klimaschutz-Standards?

Wieser Eine Notwendigkeit. Wir müssen uns dem Thema stellen, gerade als Werkstoffproduzent. ALCOA hat in diesen Tagen eine Kohlemine und ein Braunkohlekraftwerk in Australien stillgelegt. Der Hauptgrund dafür liegt in den hohen Emissionswerten der Anlagen und damit im Klimaschutz. Es ist heute eine universelle Managementaufgabe, mit diesem Thema zu Rande zu kommen.

Und wenn das Ihr Unternehmen bedroht?

Wieser Klimaschutz ist für die AMAG kein substantielles Problem. An beiden Standorten in Ranshofen und in Kanada emittieren wir nur vergleichsweise geringe Mengen an CO2. An beiden Standorten arbeiten wir mit Strom aus Wasserkraft. Ich bin da entspannt ...