Interview : "Visionärer Inhalt auf Knopfdruck? Da verlangen Sie zu viel!"

Sabine Herlitschka Infineon
© Max Wegscheidler

INDUSTRIEMAGAZIN: Frau Herlitschka, verstehen Sie eigentlich die Finanzmärkte? Ihr Unternehmen hat auf Konzernebene gerade den US-Halbleiterhersteller International Rectifier übernommen. Und jetzt überschlagen sich die Analysten und jubeln, dass der Umsatz von Infineon so fantastisch gestiegen ist. Dabei sind da bloß die Umsätze von International Rectifier dabei. Und die allein machen rund eine Milliarde Dollar jährlich aus ...

Sabine Herlitschka Dass der Umsatz gestiegen ist, ist unter den gegebenen Umständen jetzt weder eine große Überraschung noch eine große Leistung. Aber darum geht es nicht. Das Entscheidende an der Akquisition von International Rectifier durch den Infineon-Konzern ist, dass wir damit unsere Stärken weiter ausbauen. Gerade in Sachen Energieeffizienz, einem Hauptthema von uns, ist das ein sehr interessantes Unternehmen. Der zweite große Vorteil ist, dass wir damit unseren Zugang zum amerikanischen und asiatischen Markt verbessern. Die Herausforderung, International Rectifier zu integrieren, die steht allerdings noch vor uns und daran arbeiten wir intensiv. Und Sie wissen: Rund die Hälfte der Übernahmen scheitert, weil die Integration nicht gelingt.

Prallen da nicht Welten aufeinander? US-Unternehmen wird nachgesagt, Innovation nur so weit zu treiben, so weit es der Markt erfordert. Deutsche und österreichische Ingenieure neigen hingegen dazu, auch dort weiter zu optimieren, wo marktseitig kein Optimierungsbedarf mehr besteht. Sie wollen sozusagen nicht nur den besten Chip, sondern auch noch den schönsten.

Herlitschka Das ist eine spannende Frage: Wo gehe ich so weit, dass ich sage, ich will kompromisslos das absolute High-End-Produkt haben, das vielleicht keiner sonst auf der Welt hat, und wo geht es stärker darum, ein Best-Fit-Produkt zu haben, das optimal auf die Bedürfnisse des Kunden zugeschnitten ist. Das muss man immer wieder neu ausbalancieren und das sind Diskussionen, die jedes Unternehmen führt. Bei uns sind diese Fragen durch die Akquisition von International Rectifier jetzt natürlich besonders aktuell. Wir haben auf der einen Seite eben den amerikanischen und auf der anderen Seite den europäischen Technikzugang. Das in der Praxis zu vereinbaren und zu den besten Lösungen zu kommen, findet aktuell intensiv statt.

Sie sind spürbar fasziniert von der Umsetzung von Technologie in die Praxis. Als Vorstandsvorsitzende sind Sie aber auch für das Kaufmännische zuständig. Faszinieren Sie nackte Zahlen auch so sehr?

Herlitschka In meiner Rolle bin ich jedenfalls auch dafür verantwortlich. Die kaufmännische Seite des Unternehmens ist die in Zahlen ausgedrückte Strategie. Wir haben auf Konzernebene kaufmännisch ganz klare Ziele für die Zukunft formuliert und die sind durchaus griffig. Aber auch da geht es nicht nur um nackte Zahlen, da steckt ja mehr dahinter. Infineon gibt es erst seit fünfzehn Jahren und es ist ein Unternehmen, das Höhen und Tiefen durchlebt hat wie kaum ein anderes. Daraus und aus der Tatsache, dass unser Geschäft per se sehr zyklisch ist, ergeben sich unsere wirtschaftlichen Ziele. Es geht darum, dass wir nicht in eine Situation kommen, wo wir bei der nächsten Krise, die sicher kommt, aus Geldnot Schritte setzen müssen, die wir nicht setzen wollen. Es geht also darum, Ziele zu definieren, die uns einen „Puffer“ für schlechte Zeiten garantieren.

Wenn ich aber lese, dass Sie jetzt eine operative Rendite von 13,4 Prozent haben und 15 Prozent anstreben, dann denke ich mir schon: Ganz schön zahlengetrieben. Und eigentlich auch unanständig hoch. Den Automechaniker, der solche Gewinne machen will, fragen die Kunden zu Recht, ob er jetzt völlig verrückt geworden ist.

Herlitschka Es stimmt, wir wollen, über den Zyklus gerechnet, 15 Prozent erreichen. Das kommt aber nicht daher, weil sich das irgendein Investor ganz dringend wünscht, auch nicht daher, dass wir sagen, naja, fünfzehn ist eine runde Zahl und liegt sowieso knapp bei dreizehn, also probieren wir fünfzehn. Nein, es liegt daran, dass wir für eine Krise gerüstet sein wollen. Und die fünfzehn Prozent sind eine Maßzahl, die das garantiert – als Ergebnis von Simulationen, Berechnungen. Die Zahl mag hoch erscheinen, aber wir sind eine Branche, die sich in guten Jahren zwar überproportional gut entwickelt, in schlechten Jahren geht es aber umso dramatischer bergab. Mit dem Ziel 15 Prozent über den Wirtschaftszyklus wollen wir uns ein Stück Sicherheit für Krisen schaffen, uns die Möglichkeit erarbeiten, langfristig Innovationsführer zu bleiben, damit nachhaltiges Wachstum zu ermöglichen und Jobs zu sichern.

Und Innovation zu betreiben, die, wie Stephen Hawking meint, dazu führen wird, dass in 150 Jahren die Maschinen über den Menschen herrschen werden.

Herlitschka Also bislang hat mich noch kein Infineon-Roboter bedroht. Im Ernst: Wie so oft ist das eine Frage der Blickrichtung. Was sehe ich eher? Die Chancen, wie zum Beispiel die Möglichkeit, die Zahl der Verkehrstoten mit Fahrassistenzsystemen drastisch zu senken, oder die Gefahren? Solange die Vorteile überwiegen, ist für mich die Antwort klar. Wenn neunzig Prozent der Verkehrsunfälle durch menschliche Fehler passieren und ich diese Fehler durch Assistenzsysteme verhindern kann, wüsste ich wirklich keinen Grund, warum ich das ablehnen sollte.

Verstehen Sie trotzdem das Unbehagen, das manche Menschen empfinden, wen ihnen das Auto per Piepston mitteilt, sie sollen sich anschnallen?

Herlitschka Ich verstehe, dass man sich die Oberhoheit über die Maschine nicht aus der Hand nehmen lassen will. Ich verstehe auch, dass man Entscheidungen selbst treffen möchte. Aber eine Warnung, dass ich nicht angeschnallt bin, oder einen Sensor, der mich warnt, wenn ich jemand im Rückspiegel übersehen habe, kann ich wirklich nicht als eine Bedrohung des Menschen durch den Roboter sehen.

Dennoch: Wenn es um den technischen Fortschritt geht, ist Österreich ein Land der permanenten Bedenkenträger. Oder habe ich da eine verzerrte Sicht auf die Wirklichkeit?

Herlitschka: Nein, es gibt ja auch Studien, die das belegen. Österreich zählt im EU-Vergleich zu jenen Ländern, in denen die Skepsis gegenüber neuen technischen Entwicklungen besonders groß ist. Jeder, der einmal in den USA war, weiß, dass es auch anders geht. Dort sieht man zunächst einmal die Chancen. Und das ist auch mein Zugang. Die Risiken schaue ich mir selbstverständlich an, aber ich will mir dadurch nicht den Blick aufs Ganze verstellen lassen. Und in einer Region wie dieser halte ich das auch für ganz wichtig.

Einer Region wie dieser?

Herlitschka In Kärnten. Es ist wichtig, das Finanzfiasko aufzuarbeiten, zu klären, wie es dazu kommen konnte. Aber gleichzeitig frage ich mich: Warum sollten wir diese Krise nicht auch als eine Chance nutzen? Schauen Sie sich die Steiermark an. Die war in den Achtzigerjahren nach dem Zusammenbruch der Verstaatlichten vom Grundtenor in einer ähnlich dramatischen Situation wie Kärnten heute, mit hoher Arbeitslosigkeit, mit allem Negativen, was dazugehört. Heute ist die Steiermark eine der wettbewerbsstärksten Regionen in Europa. Wenn wir die nötigen Schritte tun, können wir Kärnten in zehn Jahren in eine ähnlich erfolgreiche Position bringen. Das Potenzial ist da. Die neuen Entwicklungen bis hin zu Industrie 4.0 können wir dafür nutzen.

Weil Sie Industrie 4.0 sagen: Sind Sie des Begriffs inzwischen nicht ein wenig überdrüssig?

Herlitschka Es ist leider so: Wenn bestimmte Begriffe als Codewörter verwendet werden, dann nützen sie sich irgendwann ab und wir verlieren den Blick dafür, was eigentlich dahintersteckt. Die Gefahr gibt es bei dem Schlagwort Industrie 4.0 auch. Das gebe ich zu.

Und wenn Sie Industrie 4.0 über Schlagworte hinaus mit wirklich visionärem Inhalt füllen müssten: Was würden Sie sagen?

Herlitschka Visionärer Inhalt auf Knopfdruck, da verlangen Sie aber viel von mir! Da möchte ich ein Stück ausholen: Infineon ist ein Unternehmen, das sehr viel davon, was mit dem Ausdruck Industrie 4.0 verbunden wird, bereits lebt. Sie finden bei uns in der Fertigung schon jetzt das Tracking von Siliziumscheiben oder die Kommunikation von Siliziumscheiben mit der jeweiligen Arbeitsstation oder auch die papierlose Fertigung. Derzeit richten wir im Rahmen einer Erweiterung mit insgesamt 290 Millionen Euro über drei Jahre auch einen Pilotraum Industrie 4.0 ein, wo wir weiter erarbeiten wollen, wie wir einen noch größeren Grad an Vernetzung erreichen können. Das Entscheidende aus meiner Sicht ist: Wir machen das nicht in einem Testlabor, sondern als Teil der aktuellen Produktion, wo wir dann sehen wollen, was an Selbststeuerung und höherwertigen Tätigkeiten alles noch möglich ist. Denn ich bin sicher, dass Europa hier tatsächlich nicht nur zu einem Leitanbieter, sondern auch zu einem Leitmarkt werden kann.

Optimisten behaupten ja sogar, wir können nicht nur Leitmarkt für Neues werden, sondern mit neuer Technologie alte, bereits verlorene Produktion aus Asien zurückholen.

Herlitschka In den USA versucht man das und es gelingt auch da und dort. Ich glaube aber nicht, dass es sinnvoll ist oder in großem Maßstab gelingen kann, einfache Chips, die jetzt billig in Asien produziert werden, in Europa produzieren zu wollen. Das wird in einem Hochlohnland wie in Österreich nicht funktionieren. Deshalb setzen wir auf Innovation und Funktionalität unserer Produkte. Der Preis ist dabei schon auch wichtig, klar, aber nur über den Preis konkurrieren werden wir niemals können. Aus den Erfahrungen der 2008/2009-Krise haben wir außerdem beschlossen, uns als Infineon noch stärker darauf zu konzentrieren, was wir am besten können: Energieeffizienz, Mobilität und Sicherheit.

Hochtechnologie als Geschäftsmodell funktioniert für Infineon natürlich. Aber größer gedacht: Nicht jedes österreichische Unternehmen wird Hightech produzieren können. So viel Hightech braucht die ganze Welt nicht.

Herlitschka Klar wird nicht jedes KMU Technologieführer sein können. Wenn wir aber davon ausgehen, dass Österreich rund zwei- bis dreihundert Leitbetriebe hat, die fast alle in irgendeiner Form mit Hightech und Innovation zu tun haben, und wenn man weiß, dass jeder Leitbetrieb mit rund 900 KMUs zusammenarbeitet und diese Zahl mit den zwei- bis dreihundert Leitbetrieben multipliziert, dann kommt man ziemlich genau auf die Gesamtzahl aller Betriebe in Österreich. Daran sieht man, wie intensiv die Vernetzung mit KMUs in der Praxis läuft und dass Hightech und Innovation der Weg ist, auf dem Österreich wirtschaftlich am besten überleben kann. Ich wüsste jedenfalls keinen besseren.

Sie haben einen ausgeprägten akademischen Background, haben viele Jahre eine führende Position bei der Österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft gehabt, wären fast Rektorin der TU Graz geworden. Ist es mehr als nur Zufall, dass Sie am Ende bei einem der forschungsaffinsten Unternehmen Österreichs Vorstandsvorsitzende geworden sind?

Herlitschka Es war nicht so, dass mein ganzes Berufsleben darauf abgestellt war, irgendwann Vorstandsvorsitzende bei Infineon zu werden. Aber ganz ein Zufall ist es natürlich auch nicht. Es gibt sicher Unternehmen, die mich einfach weniger interessiert hätten, weil dort dieser angewandte wissenschaftliche Teil nicht so stark ist. An dem schon angesprochenen Schlagwort Industrie 4.0 aufgehängt: Ich finde es neben der technischen Seite auch sehr spannend, wie sich das konkret ökonomisch auf Unternehmen auswirkt. Für Infineon haben wir an ersten praktischen Beispielen gerechnet, dass Industrie 4.0 eine Produktivitätssteigerung um 2,5 Prozent bringen kann. Das ist in unserer Branche sehr viel. Und wir kommen dabei auch noch zu besserer Qualität.

Tut es Ihnen eigentlich leid, dass Sie nicht Rektorin an der TU Graz geworden sind?

Herlitschka Ich finde es großartig, dass ich in eine Situation kommen konnte, wo einerseits die Option im Raum stand, TU-Rektorin zu werden und auf der anderen Vorstandsvorsitzende von Infineon. So viele Menschen, die ein solches „Luxusproblem“ haben, gibt es nicht. Am Ende sind die beiden Welten vielleicht auch weniger unterschiedlich, als es auf den ersten Blick scheinen mag: Innovation entsteht nämlich sehr oft an Schnittstellen von unterschiedlichen Bereichen. Und da wie dort geht es um die Schnittstelle zwischen Wissenschaft und industrieller Innovation. Genau das ist ein Punkt, an dem ich mich sehr wohl fühle.

Trotzdem wäre bei Ihrem Lebenslauf der Job der TU-Rektorin in Graz der gradlinigere Karriereverlauf gewesen. Da hätte keiner gefragt: Warum soll gerade sie die Rektorin werden? Die kommt doch von ganz woanders.

Herlitschka Leute, die solche Fragen stellen, gibt es immer. In Graz hat es geheißen, wieso ich Rektorin werden soll, wo ich doch nicht aus der Steiermark bin. Und natürlich hat es auch bei Infineon Skeptiker gegeben. Andererseits habe ich mich mein ganzes Berufsleben lang immer in diesem Übergangsbereich zwischen Forschung und Praxis bewegt. Ich habe meine Dissertation bei Baxter, damals Immuno, geschrieben, zu einer Zeit, da das auch alles andere als üblich war und auch immer die Frage gestellt wurde: Ist das jetzt noch universitäre Forschung oder schon Entwicklungsarbeit für ein Unternehmen?

Als Frau an der Spitze eines Großkonzerns sind Sie, jedenfalls in Österreich, auch eine Grenzgängerin.

Herlitschka Und jetzt fragen Sie mich gleich, was Frauen besser können.

Stimmt.

Herlitschka Auch wenn mir diese Frage immer wieder gestellt wird. Ich tu mir mit einer Antwort nach wie vor schwer, weil man dabei fast automatisch in Stereotype verfällt. Was ich aber auf jeden Fall für einen Erfolgsfaktor halte, ist Diversität. Ich glaube, je vielfältiger Teams zusammengesetzt sind, desto besser, weil dann jeder seine Stärken einbringen kann. Und allein schon aus diesem Grund würde ich mir mehr Frauen in Führungspositionen wünschen.

Zur Person

Sabine Herlitschka, 49, ist seit April 2014 Vorstandsvorsitzende von Infineon Technologies Austria AG. 2011 wurde sie von der damaligen Infineon-Chefin Monika Kircher in den Vorstand des Unternehmens geholt, ab 2012 ist sie Vorstand für Technik und Innovation. Vor ihrem Einstieg bei Infineon war Herlitschka als Rektorin der TU Graz im Gespräch. Ihre früheren beruflichen Stationen lagen immer an der Schnittstelle von industrieller Innovation und universitärer Forschung. So schrieb sie ihre Dissertation bei Baxter, war Vizerektorin an der Meduni Graz und lange Zeit in führender Position bei der österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft. Auch heute ist Forschung, Entwicklung und Innovation ihr erklärtes Lieblingsthema.