Produktion : Was passiert mit Alois Stögers Viertelmilliarde Euro?

Es war eine seiner ersten Reisen im neuen Amt: Alois Stöger hatte sie von seiner Vorgängerin geerbt: Mitte September – nur wenige Tage nach seiner Angelobung – flog der frischgebackene Technologieminister ins Sächsische. Dort stand die Besichtigung von Deutschlands größter Industrie-4.0-Forschungsfabrik am Programm.

Auf stolze 20,2 Millionen Euro beläuft sich die Gesamtinvestition in die Chemnitzer Demofabrik, in der ein Fraunhofer-Institut (IWU) und die Partner Volkswagen, KUKA und Phoenix Contact am wandlungsfähigen Karosseriebau forschen. Bis 2018 soll die Fabrik in der Lage sein, sich selber auf neue Fertigungslose einzustellen – ein Vorhaben, das Europas Forschungselite Respekt einflößt.

Und trotzdem kam Alois Stöger an diesem Septembertag nicht als stiller Bewunderer. Dafür sind die Pläne, in Österreich die vierte industrielle Revolution nicht zu verschlafen, zu weit gediehen. Was Stöger-Vorgängerin Doris Bures Mitte August ankündigte – nämlich „als nächsten Schritt“ die Unternehmen und Forschungseinrichtungen „mit einer Viertelmilliarde Euro“ bei Industrie 4.0 zu fördern – „ist und bleibt auf Schiene“, heißt es aus dem Ministerium auch nach der Personalrochade. Auch an der geplanten Modellfabrik an der TU Wien – später sollen es mehrere im ganzen Land sein – hält der neue Minister fest.

Angst vorm Abschwimmen

Als „ausnahmslos positiv“ bewertet ein Forscher, dass die Politik den Schwerpunkt Industrie 4.0 zur Chefsache erhoben habe. Österreichs Produktionsstandort habe die Riesenchance, „sich fit für die Zukunft zu machen“, urteilt ein anderer. Töne, die dem Minister gut ins Ohr gehen werden. Oliver Lödl, Chef des niederösterreichischen Wälzlagerherstellers Schaeffler Austria, etwa freut sich auf die Mitarbeit in der TU-Pilotfabrik: „An der schlanken, vernetzten Fertigung kommen wir nicht vorbei – da reicht ein Blick auf die Energiekosten“, sagt er.

Auch andere Firmen wie Siemens Österreich, die SAG – Salzburger Aluminium Gruppe und KBA-Mödling forschen mit. In manchen Branchen ist der Betroffenheitsgrad größer und neue Produktionskonzepte werden schon heute händeringend gesucht: „Der Weltanteil des Maschinenbaus ist rückläufig, wir müssen aufpassen, nicht völlig abzuschwimmen“, meint etwa ein Maschinenbauexperte. Aber unter die euphorischen Töne über die heimische Industrie-4.0-Strategie, den „geglückten Schulterschluss von Politik und Industrie“, mischen sich auch Vorbehalte.

Späte Lese

Die heimische Industrie-4.0-Offensive kommt für manche in der Industrie eher zu spät als zu früh. Aber viele Fakten belegen das Gegenteil. Der Vergleich macht Wilfried Sihn sicher. Ende August traf der Leiter des Bereichs Produktion und Logistikmanagement bei Fraunhofer Austria in Nantes auf Forscherkollegen aus aller Welt. Am Programm stand das Treffen der 700 handverlesenen Mitglieder der renommierten Organisation für Produktionsingenieursforschung, kurz CIRP.

Sihns Eindruck bestätigte sich dort wieder einmal: Auch wenn Amerikaner und Asiaten zur Vollvernetzung von Produktionsmaschinen nicht Industrie 4.0 sagen (sie sprechen lieber von Cyberphysischen Systemen), sei das Thema „weltweit durch“. Die Frage laute längst nicht mehr, ob man die Vernetzung brauche, „sondern wie setzen wir sie ein“, beobachtet Sihn. In Deutschland sei Industrie 4.0 „ein Kanzlerthema“, das Feld laut Koalitionsvertrag vom Dezember „aktiv zu besetzen“.

Zudem laufen schon die ersten Modellfabriken. Der Bures-Vorstoß kommt für manchen reichlich spät. „Es wurde wirklich Zeit“, meint ein Experte. Deutschland sei „schon zweieinhalb Jahre am Thema dran“. Man kann es auch anders sehen. So lief in Österreich bis Mitte September die bereits siebte Ausschreibung der FTI-Initiative Produktion der Zukunft – ein gut dotiertes Programm, um das die Alpenrepublik selbst Deutschland beneidet. Laut einer Studie eines Beratungsunternehmens schaffe es Österreich neben Schweden und Deutschland unter die Top 3 der europäischen „Frontrunner“, was den Reifegrad für Industrie 4.0 betrifft. Und obwohl die Deutschen die Nase vorn haben, sind sie noch nicht dort, wo sie hinwollen: So wurden die Projekte der ersten Ausschreibungsrunde, die speziell die Hersteller in Angriff nahmen, wegen der dreijährigen Laufzeit noch nicht evaluiert. „Wir sind immer noch in der Startphase“, heißt es beim Projektträger.

Demofabriken

Die Idee für die erste heimische Demofabrik kommt aus dem Ministerium. Mit ausgearbeitet hat das Konzept die FFG sowie Fraunhofer-Produktionsforscher Wilfried Sihn. Die Arbeit in der Fabrik vorantreiben werden neben Sihn zwei weitere profilierte TU-Forscher: Friedrich Bleicher, Vorstand am Institut für Fertigungstechnik und Hochleistungslasertechnik, sowie Detlef Gerhard vom Institut für Konstruktionswissenschaften und Technische Logistik.

Die „Gründung der ersten Pilotfabrik Österreichs“, von der beim Ministerium die Rede ist, beschreibt IFT-Vorstand Friedrich Bleicher so: „Es ist eine PPP-Finanzierung mit sechs Millionen Euro an Mitteln, die jeweils zu einem Drittel vom Technologieministerium, der Industrie und der TU Wien eingebracht werden.“

Die Pilotfabrik wird auf der Lern- und Innovationsfabrik aufbauen, die an der TU-Fakultät für Maschinenwesen und Betriebswissenschaften von den drei Professoren betrieben wird. Bis Mitte 2015 dürfte die Demofabrik auf rund 300 bis 500 Quadratmetern in der Engerthstraße in Wien-Leopoldstadt einquartiert sein. „Später wäre auch eine Übersiedelung nach Wien-Aspern denkbar“, heißt es an der TU Wien. Damit kommen die Wiener nicht an die Dimensionen der Chemnitzer Fraunhofer-Kollegen heran – dort wird das Thema Industrie 4.0 mit fünfmal so hohem Startbudget angegangen. An der wissenschaftlichen Exzellenz zweifelt aber trotz des kleinen Maßstabs keiner ernsthaft. Zu oft haben kleine Spezialistenteams große Organisationen Lügen gestraft. „Oder hätten Sie in den Achtzigern geglaubt, dass ein kleines TU-Labor im dritten Wiener Gemeindebezirk das Zeug dazu hat, die computerintegrierte Fertigung auf den Weg zu bringen?“, fragt ein Produktionsprofi rhetorisch.

Müsste Dietmar Goericke ein erstes Fazit ziehen, würde es wohl so lauten: Der Produktionsschwerpunkt Industrie 4.0 ist eindeutig ein CEO-Thema. Der Geschäftsführer des VDMA-Forums Industrie 4.0 ist ein versierter Kenner der Szene, die sich rund um Industrie 4.0 herausgebildet hat.

„Geschäftsführer sind mit einer großen Neugier bei der Sache“, beobachtet er. Aber auch ein anderer Eindruck ist entstanden. Der „Aktionismus“, der in Sachen Industrie 4.0 Deutschland wie Österreich erfasst hat, birgt die Gefahr, „sich gegenseitig in unterschiedlichen Initiativen zu verschleißen“, sagt Goericke. Die Angst bei Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, etwas zu verpassen – in dem Fall womöglich gleich den Megatrend des nächsten Jahrzehnts – ist der guten Sache nicht immer dienlich.

Ein Punkt, der auch hierzulande für einiges Kopfzerbrechen sorgt. Dass viele Initiativen jetzt auch speziell KMU erreichen sollen, daran stößt sich zwar keiner. Gebe es die Auseinandersetzung mit dem Thema auf Bundes- und Landesebene nicht, wäre die Gefahr, dass die Vollvernetzung nur finanzstarken Produktionseliten vorbehalten bleibt, groß. So ist das kürzlich vorgestellte Projekt eines „Pilotraums Industrie 4.0“ des Villacher Chipherstellers Infineon Technologies Austria wohl ein Meisterstück der betrieblichen Forschung. Der Auftrag der Politik: Sie müsse „neutrale Umgebungen, in denen Unternehmen abseits des Wettbewerbs in einer gemeinsamen Forschungsinfrastruktur testen und umsetzen können, schaffen“, heißt es im Technologieministerium.

Neue Fronten

Die Geschlossenheit, von der so oft die Rede ist, vermissen Produktionsexperten jedoch noch. Ein Arbeitskreis im Technologieministerium – mittlerweile fand das dritte Treffen statt und drei Kernthemen, darunter „Der Mensch in der Produktion“, sind definiert – hat sich zwar erfolgreich formiert: Unter anderem sind Forscher, Vertreter der Kammern, der Verbände FMMI und FEEI und Unternehmen an Bord.

Der Wunsch führender Produktionsforscher, eine Plattform für Expertenteams zu bekommen, die über ministerielle Kreise moderiert wird, scheint erfüllt worden zu sein. Zusätzlich stellt das Wissenschaftsministerium heuer und nächstes Jahr insgesamt 30 Millionen Euro für Industrie-4.0-Prozesse zur Verfügung.

Dass sich das Land Oberösterreich selbstbewusst mit einer eigenen Industrie-4.0-Plattform positioniert und für Industrie-4.0-Projekte im Land aktuell tüchtig Geld in die Hand nimmt (siehe Kasten), werten einige als Alleingang. „Solche Aktionen halte ich für kleinkariert, damit werden wir keinen Erfolg haben“, meint ein Mitglied eines Industrie-4.0-Arbeitskreises verärgert. Ein anderer äußert sich zurückhaltender:

„Meine größte Sorge ist, dass durch Konzeptlosigkeit viel Geld in den Sand gesetzt wird.“ Dass koordinierende Stellen aufgebaut und durch Einzelaktionen „im selben Moment konterkariert“ würden. In Oberösterreich sieht man die Sache anders. Das Land habe früher noch als andere eine Studie über die Potenziale von Industrie 4.0 erheben lassen. Sowohl das Wissenschafts- als auch das Technologieministerium würden beim Thema Industrie 4.0 „individuell den Führungsanspruch stellen“, heißt es im Kabinett von Wirtschaftslandesrat Michael Strugl. Für das Land sei es „interessant, an beiden anzudocken“.

Gerade laufen in der Bundesrepublik mit dem Wirtschaftsministerium Gespräche, wie der Kraftakt einer gemeinsamen Industrie-4.0-Plattform mit Politik, Industrie, Verbänden und Wissenschaft zu bewerkstelligen sei. „

Wir brauchen dringend einen Rechtsrahmen und konkrete Umsetzungsmaßnahmen, etwa für eine sichere Dateninfrastruktur“, heißt es beim Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau. Breitbandkabel, so ein Verbandsansinnen, müssten „bis in den letzten Winkel des Landes verlegt wer- den“. Für VDMA-Mann Diemtar Goericke vorstellbar: „Eine Industrie-4.0-Agentur, die alle nationalen Agenden koordiniert.“

Eliten am Drücker

Industrie 4.0 könnte zu einem Luxusprogramm für Produktionseliten verkommen, befürchten KMU-Vertreter. Darüber, dass mittlerweile über 140 Definitionen für Industrie 4.0 kursieren, kann der Wiener Produktionsforscher nicht schmunzeln. Im Gegenteil. Er vermisst bei der heimischen Auseinandetzung mit dem Thema „die inhaltliche Grundstruktur“. Es dürfe nicht vom Zufall getrieben sein.

Die Gefahr einer zu starken inhaltlichen Verbreiterung ist angesichts der üppigen Fördergelder, die heuer und nächstes Jahr in die Ausschreibungen gepumpt werden, „nicht ganz von der Hand zu weisen“, meint ein Experte. Aber: Die Meinungen darüber, was ein sinnvolles Industrie-4.0-Projekt ist und was nicht, gehen naturgemäß auseinander. „Der eine betrachtet die Schwarmlogistik als Zukunftsthema, der andere würde sie sofort aussortieren“, vertritt ein Produktionsleiter eher die Meinung, dass Vielfalt ausdrücklich erwünscht sein müsse.

Sofern Österreichs Wachstumslokomotive – der Mittelstand – nicht ausgebootet werde. „Großbetriebe haben häufig beide Hände im Fördertopf“, warnt ein Kenner der heimischen Förderlandschaft. KMU dagegen hätten wegen Kapazitätsreduktion oft nicht einmal die Zeit „für das Verfassen von Projektanträgen“, meint er. Dass Großbetriebe ganz andere Mittel haben, ihre Interessen durchzusetzen, will ein Verbandsexperte auch bei der Deutschen Normungsroadmap Industrie 4.0 beobachten: „Natürlich sitzen da die großen Firmen drin, die versuchen, ihre Geschäftsmodelle durchzupressen.“

Die Dimensionen der „E3-Forschungsfabrik“ sind ein- malig – das wird auch Neo-Technologieminister Alois Stöger erkannt haben: Eine vollständige Karosseriebauanlage, auf der Türen des Volkswagen-Kompaktmodells Golf produziert werden, gehört zu ihrer Ausstattung. Die Gesamtanlage entspricht dem Stand der Technik im Karosseriebau. „Und zwar dem höchsten“, sagt Matthias Putz, der Leiter des Fraunhofer-Instituts für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik, dem INDUSTRIEMAGAZIN. Weitere Besonderheiten folgen nach und nach. Denn beim so wunderbar reibungsfreien Fertigungsablauf wird es nicht bleiben.

Das Ansinnen der Projektpartner um Volkswagen, KUKA und Phoenix Contact ist es, die Anlage schrittweise zu optimieren, indem „wir nach und nach einzelne Anlagen aus dem Betrieb nehmen“, erzählt der Institutsleiter. Die Zielkoordinaten sind bekannt: Bis 2018 soll ein satter Sprung in Sachen Fertigungseffizienz gelingen. Die gesamte Anlage soll dann in der Lage sein, sich selber flexibel auf neue Fertigungslose einzustellen. Im Topf sind dafür 20,2 Millionen Euro.